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Einmal im Jahr fahre ich, so ich es mir leisten kann, in die immer selbe Stadt. “Wird das nicht langweilig?” fragen mich die Leute oft. “Fahr doch mal nach Berlin, is’ auch schön!” Aber in Berlin war ich ja auch schon, und nein, langweilig wird es mir nie. Das hat vor allem zwei Gründe: erstens bin ich relativ leicht zu unterhalten. Und zweitens habe ich immer einen sehr guten Reiseführer bei mir: den situationistischen “Lonely Planet Guide to Experimental Travel”. Dieser Guide ist womöglich der nützlichste überhaupt.
Zum einen ist der Reiseführer für jeden Ort der Welt gültig. Das heißt, man hat nicht jahrelang drei Reiseführer für Bottrop im Regal stehen, lange nachdem man schon aufgehört hat, sich zu fragen, warum man je nach Bottrop gefahren ist. Zum anderen veraltet der Guide nicht. Enttäuschung ist deshalb quasi ausgeschlossen - außer beim Reiseexperiment “Budget Tourism”, bei dem sie von vornherein fester Bestandteil des Konzeptes ist. Denn im Guide ist genau das drin, was draufsteht: Experimental Travel - also von Surrealismus, Situationismus, Psychogeographie und Dadaismus inspirierte experimentaltouristische Strategien für Anfänger und Fortgeschrittene, für jeden Geldbeutel und jede Gelegenheit.
Für ein schnelles Verständnis der Experimente gibt der Guide knappe, klare Anweisungen und eine Auflistung eventuell benötigter Requisiten. Hinzu kommen einführende Worte, sowie Laborergebnisse, also Reiseberichte, die mal die Form eines Tagebucheintrags, mal eher die einer Rezension der touristischen Technik haben: “Blind travel is an extreme kind of tourism, requiring constant alertness. I can’t begin to describe how relieved I was the following day when i removed the bandages in the train on our way home. I left Luxemburg having seen nothing of the city, but curiously, i’ve been left with some very precise images.”
Die Bandbreite der Explorationen reicht vom relativ konservativen “Backpacking at Home” (man lässt sich von einem Freund zum heimischen Flughafen fahren, um dann, nach möglichst billigem Transfer zurück, in der Heimatstadt in ein Backpacker Hostel einzuziehen) bis hin zu “Automatic Traveling”, einer Reisetechnik analog zum automatischen Schreiben, für die man nichts braucht als ein Unterbewusstsein, sowie “self-awareness and a superego to help you find the way back home”. Auch einige Experimente, die nur zu zweit oder mit mehreren Personen umsetzbar sind, werden vorgestellt , etwa “Synchronised Travel”, bei dem die Reisegefährten sich an unterschiedlichen Orten parallel fortbewegen und jeweils gleichzeitig ein Foto machen.
Manche Experimente erfordern etwas mehr Mut und Aufwand, zum Beispiel die Reise mit verbundenen Augen oder das “Anachronistic Adventure”, für das man zunächst ein Hochrad oder ein anderes veraltetes Reisevehikel besorgen muss. Viele andere aber sind recht überschaubar und können auch am eigenen Wohnort spontan in der Mittagspause oder an einem freien Nachmittag durchgeführt werden. Ein Beispiel hierfür ist die “Expedition to K2”, bei der man einen Stadtplan nimmt, und dann einfach ins Planquadrat K2 fährt, um es zu erkunden. “Compared to the fearsome challenges of scaling K2 in Kaschmir, exploring the region of K2 on Map 531 in a Melbourne street directory was decidedly easier, being both frostbite and sherpa free”, beginnt der Bericht zu diesem Abenteuer und endet: “”While the snowy mists of far-off K2 remain a mystery to me, they can surely be no stranger than the flat plains of deepest suburbia”.
Überhaupt liefert der Guide dank seiner elastischen Auslegung des Reisebegriffs zahlreiche Experimente, die ganz einfach umzusetzen sind. Ein Stadtplan kann mit Hilfe der vom Guide vorgegebenen Bewegungsmuster schnell zur Basis für situationistische Ausbrüche aus dem heimatlichen Kiez, den gewohnten Wegen, der alltäglichen Sicht auf die Umgebung werden: hierfür eignen sich Experimente wie “Alternating Travel” (immer abwechselnd links und rechts abbiegen), oder die Ariadnefaden-Reise, bei der man die 10 Lieblingsorte einer anderen Person auf dem Stadtplan markiert und dann nacheinander aufsucht. Verfügt man über mehr Budget oder eine wirklich ungewöhnlich lange Mittagspause, kann man diese Experimente selbstverständlich auch auf eine Weltkarte skalieren. Möchte man lieber ein paar Wochen nicht aus dem Haus gehen, reist man mit einer angeleiteten “Literary Journey” abenteuerlich durch das eigene Bücherregal.
Insgesamt 40 verschiedene touristische Experimente werden im Guide graphisch ansprechend präsentiert, eingerahmt von einer kurzen Einführung zu Situationismus, Psychogeographie und der Idee des Tourismus, sowie einem Anhang mit weiteren Spielmöglichkeiten. Damit sorgt der Guide sogar dann für eine gute Reise, wenn man doch nur wieder auf dem Sofa hängen bleibt.
Rachael Antony, Joël Henry: The Lonely Planet Guide to Experimental Travel
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