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Europa

Krise der repräsentativen Demokratie - ein leicht ironischer Essay

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 24.11.2023
Was ist los mit unserer Demokratie und mit uns Demokraten? Immer öfter hört man, der eine oder andere gefährde mit seinen Ansichten und/oder Taten die DemokratieLaut einer Umfrage in Deutschland
sahen 20 Prozent der Befragten den steigenden Rechtsextremismus/ Rechtspopulismus im Land als größte Gefahr an. Am zweithäufigsten wurde zum Zeitpunkt der Erhebung im Oktober 2022 die soziale Ungleichheit sowie abgehobene Politiker:innen genannt (je elf Prozent). Die aktuell sehr präsente Energiekrise gaben hingegen lediglich drei Prozent der Befragten als größte Gefahr an.
Meine kurze Google-Suche unter den Stichworten "Gefährdung der Demokratie" brachte gut 600.000 Links. Man kann also durchaus vermuten, wie es der MERKUR in seinem November-Heft tut, dass unsere repräsentative Demokratie in eine Krise geraten ist:
Aus welchen Gründen, ist nicht leicht zu sagen. Liegt es an den Repräsentanten, den Repräsentierten oder der Idee der Repräsentation? 
Unsere Politiker sind sicher im Schnitt ihrer Sozialisation nicht identisch mit der sozialen Zusammensetzung ihrer Wähler. Ihr Mandat ergibt sich aus der Zahl der Wähler-Stimmen, nicht aus der sozialen Identität mit den dann Repräsentierten.
Der Bundestag ist kein Abbild der Gesellschaft, weiß aus dieser Differenz aber keinen Vorzug zu machen. Im Schnitt sind seine Abgeordneten älter, wohlhabender, urbaner, männlicher und promovierter als die übrige Bevölkerung und haben seltener eine Migrationsgeschichte. Das schlägt sich, wie neuere Untersuchungen zeigen, auch in seinen politischen Entscheidungen nieder. 
Es liegt also nahe, je mehr man selbst den Abgeordneten gleicht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man die eigenen Ansichten tatsächlich in den verabschiedeten Gesetzen wiederfindet. Die dann zu den Pflichten der anderen werden. Was dann in dieser Gruppe zu höherer Zufriedenheit führen sollte. Das ist aber wohl nicht so. Befragungen ergeben ein leicht schizophrenes Bild:
Sieht man von Fragen der Migration ab, erkennen sie sich in vielen politischen Überzeugungen ihrer Repräsentanten durchaus wieder, jedenfalls stärker als noch vor dreißig Jahren. Das Vertrauen in sie ist in derselben Zeit gleichwohl durch die Bank weg gesunken. Offenbar hegt man ein notorisch schlechtes Bild von seinen Mitbürgern, nachdem man sie selbst in ein Amt berufen hat, unabhängig davon, wieweit ihre Ansichten tatsächlich von den eigenen abweichen.
Komischerweise sind – so jedenfalls Christian Neumeier in seinem Essay – oft jene, die in Parlamenten eher überrepräsentiert sind, die alten, halbgebildeten Männer besonders unzufrieden mit den gewählten Politikern. Ob die gebildeten (alten) Männer und Frauen zufriedener sind, wer weiß.

Ebenso wenig wie soziale Ähnlichkeit gelingende Repräsentation garantiert, schließt soziale Differenz diese grundsätzlich aus. Mit viel Populismus schlagen ….
amerikanische Vielleicht-Milliardäre …. aus den Symbolen ihres Reichtums repräsentatives Kapital, indem sie sie mit der Scheingleichheit rhetorischer Anbiederung verbinden.

Auch scheint die Bereitschaft politischer Amtsträger, Organisationen oder Institutionen auf Interessen anderer Akteure einzugehen (in dem sie z.B. Sozialausgaben ausweiten, AKW schließen oder Preise stützen) ggf. nicht viel zu nützen.

Das könnte darauf hindeuten, dass in der fehlenden Responsivität der Parlamente, so bedenklich sie ist, nicht der primäre Grund für die Krise der Repräsentation liegt. Liegt in der verbreiteten Unzufriedenheit einfach ein stummer Schrei nach mehr demokratischer Partizipation? 

Schaut man aber in die Kommunalpolitik, spürt man dort wenig Lust auf konstruktive direkte Demokratie. Mit Ausnahme, wenn es um die Reinhaltung des eigenen Vorgartens geht frei etwa von Windrädern oder Asylantenheimen. 

Wo sich am leichtesten die größten Veränderungen bewirken ließen, käme es einem darauf an, ist zugleich das Desinteresse am stärksten. Noch am ehesten Vertrauen genießen dagegen diejenigen Institutionen, die sozial am allerwenigsten repräsentativ sind, weil sie es gar nicht sein sollen: Gerichte und Zentralbanken.

Es stimmt, der Kern des Problems bleibt häufig unscharf. Liegt er in den Differenzen zwischen Repräsentanten, Repräsentierten und ihren demoskopisch ermittelten zunehmend differenzierten Einstellungen? Oder darin, 

dass die traditionelle Vermittlung dieser Differenz durch die Parteien nicht mehr gelingt. In den zahllosen öffentlichen Debattenbeiträgen der vergangenen Jahre zeigt sich eine auffällige Tendenz, gelingende politische Repräsentation unhinterfragt als Spiegelbildlichkeit zu verstehen. Die Logik von Abbild und Durchschnitt unterläuft dabei die der Mehrheit. Dass Regierungen etwa integrationsfreundlicher sind als die Bevölkerung im Durchschnitt, könnte ja auch einfach bedeuten, dass sie eine proeuropäische Mehrheit und nicht die euroskeptische Minderheit repräsentieren.

Bedeutet das, Repräsentation gilt als gelungen, wenn Ruhe im Land ist? Allerdings handelt es sich bei solchen Mehrheiten oft nur um relative, nicht um absolute Mehrheiten, die meisten Konstellationen sind ja nicht rein bipolar. Wie auch (europaweit) die Zersplitterung der Parteiensysteme zeigt. 

Und, Mehrheit bedeutet nicht zwangsläufig Richtigkeit bzw. Realitätstauglichkeit. Das ist m.E. ein grundsätzliches Problem von Demokratien. Mehrheiten und ihre Repräsentanten können irren. Was passiert, wenn das deutlich wird. Ist es nicht genau das, was wir gerade sehen in der Russlandpolitik, in der Energie- und Wirtschaftspolitik, in der Finanzpolitik, in der Migrationspolitik? Die Gruppen, die vorher schon eine andere Politik wollten (und dafür oft harsch bekämpft wurden, sich radikalisierten) bekommen Zulauf und Mehrheiten. 

Der Essay diskutiert dann mögliche Auswege, wie Bürgerräte, direktdemokratische Optionen, aber auch bessere Bildungssysteme, um das Volk klüger zu machen. Ich halte das für einen wichtigen Diskurs. Aber wir sollten uns auch über die grundsätzliche Imperfektion der Menschen und ihrer sozialen Systeme klar werden. Erinnern wir uns an die vier berühmten kantischen Fragen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ Vielleicht hilft dabei auch ein Besuch der großen Kant-Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle

Krise der repräsentativen Demokratie - ein leicht ironischer Essay

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Kommentare 1
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 12 Monaten

    sehr wahr. Was vielleicht auch helfen würde: dass "den Menschen" bewusster ist/gemacht wird, was Repräsentation wirklich bedeutet.

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