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Zeit und Geschichte

"Geschichtskrieg": Streit um die Gründungsmythen der USA

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
Zum Kurator'innen-Profil
Dirk LiesemerMontag, 04.04.2022

Vor zweieinhalb Jahren hatte ich hier auf ein vorbildliches Projekt der New York Times aufmerksam gemacht: In "1619" wird die Geschichte der ersten Sklaven erzählt, die in eben jenem Jahr in die damals britischen Kolonien Nordamerikas verschleppt wurden.

Das Projekt schlug ein. Seither wird in den USA heftig über die Identität der Nation gestritten: Ist George Washington einfach nur ein Revolutionsheld? Sollte Thomas Jefferson weiter als großer Gründungsvater geehrt werden, obwohl er doch ein Sklavenhalter war? Muss überhaupt die Geschichte der Sklaven nicht viel mehr gewürdigt werden? Oder ist alles ganz anders: Führen Projekte wie "1619" nicht zu einer Zersetzung der US-Kultur? (Als wäre Zersetzung per se etwas schlechtes.)

All dies sind nicht einfach nur akademische Fragen, die in Amerika ergebnisoffen und faktenbasiert debattiert werden. Vielmehr haben sich die Parteien dieser Fragen angenommen, um sie – was völlig verrückt ist – mithilfe von Gesetzen zu entscheiden.

Das viertelstündige DLF-Feature von Uli Hufen gibt einen guten Überblick über eine Debatte, die als "history war" (Geschichtskrieg) gerade erst begonnen haben dürfte. Kompromisse zeichnen sich bislang ebenso wenig ab wie die Erkenntnis, dass sich ein zwiespältiges Erbe, wie es Washington und Jefferson hinterlassen haben, gerade nicht mal eben in eine Schublade einsortieren lässt.

Ich denke, man wird mit Ambivalenzen leben müssen wie auch die hiesigen, weit weniger wilden Debatten um Kant und Hegel zeigen. Menschen einfach als gut oder böse zu markieren, klappt nicht – und das wäre auch so langweilig wie denkfaul.

"Geschichtskrieg": Streit um die Gründungsmythen der USA

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Kommentare 2
  1. Michael Praschma
    Michael Praschma · vor mehr als 2 Jahre

    Ich wühle mich gerade durch Howard Zinns "A People's History Of The United States" von 1980, jetzt bei 250 von gut 700 Seiten, somit in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg. Das Standardwerk beginnt mit Columbus, schon da dreht es einem den Magen um, und es hört dann nur noch sporadisch kurz einmal auf. Dieses Land ist auf so viel Blut, Tränen und unverhohlener Gewalt gebaut, außerdem auf eine sich immer mehr serlbst bedienende Machtelite … da kommen wohl nur wenige andere Staaten mit. Abgesehen von einigen tadelnden Bemerkungen über die Sklaverei, noch seltener über den Genozid an den Natives hat kaum etwas davon in unserem Geschichtsunterricht stattgefunden, geschweige denn im US-amerikanischen.

    1. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als 2 Jahre · bearbeitet vor mehr als 2 Jahre

      ob das wirklich so wenige Staaten so erlebt und ausgeführt haben möchte ich doch bestreiten. Auch die Sachsen im 9. Jahrhundert zb können da sicher ein Liedchen von singen.
      und der Genozid an den Eingeborenen hat ja auf dem amerikanischen Kontinent schon lange vor den USA begonnen.

      Aber ja: einzigartig dürften zwei Dinge sein: dass eine moderne Demokratie ("die" Demokratie überhaupt) so begann und dass - durch moderne Errungenschaften - das Ganze uns medial so "nah" ist.
      Die Amerikaner mit ihrem history war tun jetzt vielleicht das was wir nach 1945 bzw. Jahrzehnte danach mussten: uns unserer Geschichte stellen.

      Dass wir diesen Teil der amerikanischen Geschichte in der Schule kaum durchgenommen hätten, kann ich nicht bestätigen. bei uns war das sehr wohl Thema. Vielleicht auch weil es viel "einfacher" war sich mit den blinden Flecken anderer zu beschäftigen :-).

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