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Kindern vom Holocaust zu erzählen, ist eine ebenso wichtige wie auf den ersten Blick unmögliche Aufgabe. Wo ist die Grenze? Was kann man ihnen zumuten? Was müssen sie unbedingt erfahren? Selbst für die mehrfach ausgezeichnete schwedische Kinderbuchautorin Rose Lagercrantz war die Anfrage, einer Leserschaft im Alter ab 9 Jahren davon zu erzählen, zunächst so beängstigend, dass sie ablehnte. Wie sie doch einen Weg fand, sich ihren Ängsten zu stellen und wie die Geschichte ihrer eigenen Familie Teil ihres Kinderbuchs "Zwei von jedem" wurde, erzählt sie hier.
Yvonne Franke: Was haben Sie gedacht, als man Sie darum bat, ein Märchen über den Holocaust und über Antisemitismus zu schreiben? Hat Ihnen diese Herausforderung Angst gemacht?
Rose Lagercrantz: Das war 75 Jahre nachdem man die Türen von Auschwitz geöffnet hatte. Und um dessen zu gedenken, hat man mich gebeten, darüber zu erzählen, aber aus einer besonderen Perspektive, nämlich der eines Kindes. Ich war immer sehr fasziniert davon, wie einfach Kinder Sachen erklären und versuche, das auch so zu machen. Und ich habe das Glück, dass Kinder meine Geschichten mögen. Ich habe noch nie eines getroffen, dass sie nicht gern hatte. Aber mit diesem Thema war ich mir nicht sicher. Es sollte ein Buch für kleinere Kinder werden, also für Kinder zwischen 9 und 12 Jahren. Und da habe ich zuerst Nein gesagt, weil mir das zu jung vorkam für so ein schweres Thema. In früheren Büchern habe ich zwar auch schon schwere Themen behandelt und mache das auch sehr gut, manchmal jedenfalls, aber hier konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich das schaffen sollte.Für mich ist der Holocaust ein Trauma. Das schlimmste, das in meinem Leben passiert ist. Und ich war nicht einmal dabei. Ich war noch nicht geboren, aber meine Mutter hat das alles miterlebt. Trotzdem: Jeder Tag, an dem ich nicht daran denke, ist ein guter Tag. Und ich glaube, sehr viele jüdische Kinder der ersten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg fühlen das auch. Als ich ein Kind war, wollte ich nie etwas darüber hören.
Wann hat sich das geändert?
Erst sehr spät, als ich etwa fünfzig war, hat mich die Frage beschäftigt, wie die Leute, die den Holocaust überlebt haben, es geschafft haben, weiterzumachen. Wobei in meiner Familie die meisten getötet wurden. In der Familie meiner Mutter haben nur sie und ihr Bruder überlebt.
Meinen Vater, 1901 als Berliner Jude geboren, habe ich erst nach seinen Erfahrungen gefragt, als er bereits über neunzig war. Und er hatte bis dahin auch kaum etwas von sich aus erzählt. Als ich ihn dann fragte, setzte er sich hin und besprach 28 Tonbänder mit seiner Geschichte. Plötzlich erzählte er und er klang gar nicht traurig dabei. Er hat einfach erzählt, wie es war und sein Humor blieb auch spürbar. Daraus habe ich ein ganz kleines Buch gemacht „Das Mädchen, das nicht küssen wollte“. 1995 war das. Aber das war ein Buch für ältere Kinder, etwa ab 12.
Wie kam es dazu, dass sie ihre Meinung geändert haben und doch anfingen, zu schreiben?
Ich habe auch abgelehnt, weil ich wusste: Man kann Kindern nicht von den Gaskammern erzählen, nicht einmal das Wort erwähnen. Die Erzählungen darüber haben mir selbst als Kind große Angst gemacht. Nachdem ich das Angebot erhalten und abgelehnt hatte, verließ ich meine Wohnung und traf eine Nachbarin. Es ist eine merkwürdige Geschichte, aber so war es. Diese Nachbarin hatte zwei Kinder, die zu der Zeit 8 und 9 Jahre alt waren.
Und wie immer fragte sie mich: „Was schreibst du gerade?“ Und ich habe ihr von der Anfrage erzählt, für Kinder, die so alt sind wie ihre, über den Holocaust zu schreiben. Und ich habe sie gefragt: „Verstehen die das überhaupt? Sind sie überhaupt interessiert daran?“ Und da hat sie mich ganz streng angeguckt und gesagt: „Ja! Sie sind wirklich interessiert und sie wollen wissen.“ Wie eindringlich sie mich dabei angesehen hat, hat etwas mit mir gemacht. Das habe ich mitgenommen auf einen langen Spaziergang mit meinem kleinen Hündchen und als ich zurückkam, habe ich sofort angerufen und Ja gesagt.
Wie haben Sie dann begonnen, daran zu arbeiten? War es schwer, einen Einstieg zu finden?
Das war sehr schwierig. Wie sollte ich es schreiben? Schwedische Kinder wissen im Alter von 9 Jahren oft noch nicht einmal, was ein Jude oder eine Jüdin ist. Das ist hier noch ganz anders als in Deutschland. Die muslimischen Kinder wissen es vielleicht, aber die anderen nicht. Ich habe also versucht, das mit einzubeziehen. Das war so schwer, dass ich mich geärgert habe, dass ich überhaupt zugesagt habe. Bis ich irgendwann dachte: Warum mache ich so eine große Sache daraus? Ich kann es doch so schreiben, wie ich sonst auch schreibe. Und wenn ich zum schrecklichen Teil der Geschichte komme, werde ich schon sehen, was zu tun ist. Dann habe ich über das geschrieben, was ich wusste. Was meine Tante mir erzählt hatte. Der Onkel, der Bruder meiner Mutter, wollte nicht sprechen. Kein Wort. Er wollte das Leben lieber noch ein bisschen genießen. Das verstehe ich. Ich erzähle auch lieber davon, wie Kinder sich freuen. Aber auch wenn das Leben schwer ist, ist meistens auch noch Freude da. In meinen Büchern jedenfalls. Ich suche nach der Freude, die ganze Zeit. Und wo Kinder sind, ist auch Freude.
Welchen Einstieg haben sie dann für ihr Buch gewählt und warum?
Ich habe früher Schulen besucht und dort gelesen. Irgendwann einmal habe ich die Kinder gefragt: „Wisst ihr, wo Transsylvanien ist?“ Daher stammte meine Mutter, aus Siebenbürgen. Ich dachte, das würden die Neunjährigen nicht wissen. Aber alle wussten es. Wissen Sie warum?
Wegen Dracula?
Genau. „Dracula!“, haben alle geschrien. Das fiel mir wieder ein und da habe ich gedacht. Gut! Ich fange mit Dracula an. Die Hauptfigur ist ein Junge namens Eli, inspiriert durch meinen Onkel. Zumindest zum Teil. Man hat ja das, was man künstlerische Freiheit nennt. Man erfindet etwas dazu und man lässt auch etwas weg. Mein Onkel jedenfalls hat immer Angst gehabt. Als Kind, aber auch noch als Erwachsener. Der kleine Eli im Buch hat Angst vor Dracula. Sein Bruder hat ihm eingeredet, dass die Menschen, die von Dracula gebissen werden, selbst Vampire werden und weitere Leute beißen. Aber er beruhigt ihn auch und sagt, er muss sich nicht sorgen. Höchstens dann, wenn er mal jemanden trifft, der Reißzähne hat.
Und plötzlich habe ich mich zu Hause gefühlt in der Geschichte. Ich liebe es, zu erzählen. Wenn ich etwas erzählen kann, das auch nur ein bisschen lustig ist, finde ich am besten meinen Ton.
Und dann haben Sie auch den Ort vor sich gesehen und die Menschen, die dort leben?
Ja, daraus wurde dann die Stadt, aus der meine Mutter stammt. Viele Roma leben dort und Ungarn und Rumänen. Und es war immer eine Grenzstadt. Sie heißt Sziget, das ist das ungarische Wort für Insel. Die Stadt heißt so, weil sie von zwei Flüssen umgeben ist. Als ich davon hörte, habe ich gewusst, wohin die Geschichte mich führen würde. Meine Tante hat mir erzählt: „In dieser Stadt gab es zwei von jedem. Zwei Hauptstraßen, zwei Stoffgeschäfte, zwei Friedhöfe.“ Das fand ich interessant, denn meine Mutter hat immer gesagt: „Es müssen zwei sein. Allein soll sein ein Stein.“ Auf jiddisch hat sie das gesagt. Auch in meiner Geschichte kommt nun immer wieder die Zahl zwei vor, aber insbesondere gibt es in dieser Stadt zwei Kinder, die sich sehr gut miteinander verstehen.
Das eine Kind ist Eli, dessen Vorbild Ihr Onkel war, das zweite ist ein Mädchen namens Luli. Gab es für sie auch ein reales Vorbild?
Ja, gab es. Die hieß nicht Luli, sondern ganz anders, und sie hat es auch geschafft zu überleben. Ihr Vater war nach Amerika gegangen und sie wohnte mit ihrer Schwester bei einer alten, schmutzigen Tante. Sie hatten fast nichts zu essen. Und von ihr wollte ich unbedingt auch erzählen. Ich denke, wenn man Bücher schreibt, dann sollte man nicht nur über das schreiben, was man selbst erlebt hat. Man muss sogar überhaupt nicht darüber schreiben.
Man steckt sowieso in allem drin, über das man schreibt. Aber wenn einem etwas erzählt wird, das einen wirklich berührt, dann muss man es aufschreiben. Von diesem kleinen Mädchen wurde mir erzählt und ich habe sehr viel an sie gedacht. Deshalb tauchte sie auf einmal in dieser Geschichte wieder auf.
Gab es später im Schreibprozess noch einmal einen Moment, in dem Sie nicht sicher waren, wie es weitergehen soll?
Ja, von der Deportierung der Familie des kleinen Eli konnte ich noch schreiben, ohne mich zu weigern. Aber dann kommen sie nach Auschwitz. Sie kommen an und ab diesem Moment fiel es mir schwer: „Ich klammerte mich an meiner Mama fest, bis wir vor einem Mann stehen bleiben mussten, der uns befahl, in verschiedene Richtungen zu gehen. Mama in eine Richtung und Adam und ich in eine andere. Aber ich ließ Mama erst los, als ein Soldat uns auseinanderriss. Es war das letzte Mal, dass wir unsere Mama sahen, aber davon ahnten wir nichts. Wenn ich es begriffen hätte, ich hätte den Verstand verloren.“
So erzählt Eli als Erwachsener seine Geschichte. Und an dieser Stelle beschließt er: „Hier muss ich eine Pause machen.“ Und so war es auch bei mir. In meiner Familie ist es so, dass niemand davon erzählen möchte und ich eigentlich auch nicht. Man verliert dabei fast die Lust zu leben und man schläft sehr schlecht. Das wollte ich den Kindern nicht antun. Wenn Eli dann weitererzählt, sagt er, er sei fast gestorben und habe in einem anderen Lager auf dem Boden geschlafen und da hat er versucht, an etwas Schönes zu denken. Und das war natürlich seine kleine Freundin Luli. Und er redet mit ihr und bittet sie, ihn nicht zu vergessen. Und das ist ein Gruß an alle Kinder, die gestorben sind. Weiter wollte ich hier nicht gehen, weil es ein Text für so junge Kinder ist. Ich schreibe nicht von den Toten. Ich habe beschlossen, das erzähle ich den kleinen Kindern nicht. Die zwei Millionen toten Kinder werden nicht erwähnt. Trotzdem müssen sie die Geschichte kennen. Dass ich versucht habe, sie für so junge Menschen aufzuschreiben, war sehr wichtig, aber das würde sie zu traurig machen.
Das war sehr schwer zu beschließen. Aber ich stehe dazu.
Wie wichtig ist es gerade bei dieser Geschichte, dass die Kinder sich mit den Figuren, die sie erzählen, identifizieren können?
In Schweden ist der Antisemitismus nicht sehr weit verbreitet, aber es gab immer schlimme Vorurteile gegen die Roma. Als meine Kinder klein waren, gab es ein Buch über ein Mädchen, das Katitzi hieß, das von einer Roma geschrieben worden war. Das hat Wunder bewirkt. Alle Kinder liebten Katitzi. Sie waren vertraut mit ihr und fühlten sich bei ihr zu Hause. Da konnte kein Hass mehr entstehen. Kinderbücher sind unser gemeinsames Erbe.
Das Beste, das man Kindern geben kann, sind gute Bücher.
Zuerst erschienen auf yourbook.shop
Quelle: Yvonne Franke Bild: Moritz Verlag / y... yourbook.shop
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