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Literatur

Weg sein - hier sein (ein Buch der Stunde, ein wunderbares!)

Weg sein - hier sein (ein Buch der Stunde, ein wunderbares!)

Annika Reich
Autorin
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Annika ReichFreitag, 02.12.2016
Wie kann man eine alternative Geschichte der Einwanderungsgesellschaft erzählen und so ein wirkmächtiges Bild jenseits der Bedrohungs-, Angst- und Überforderungsszenarien schaffen? Wie kann man zeigen, dass Migration eine Chance ist und die offene Gesellschaft in Deutschland von der Mehrheit gewollt und gelebt wird? Wie gelingt es, der herrschenden negativen Erzählung, eine positive, d.h. realistische hinzufügen, um die Kräfte, die daran arbeiten, zu stärken? Diese Fragen treiben mich um.


Ich glaube, wir müssen viel mehr Geschichten des allerorts gelingenden Zusammenlebens erzählen, und wir müssen die Menschen, die hierher geflohen sind, viel mehr selbst zu Wort kommen lassen. Wir verstehen dann besser, mit wem wir unsere Welt teilen und welche Denkstrukturen unserem eigenen Weltbild zugrundeliegen. 

Im secession Verlag ist nun ein wertvoller Beitrag zu dieser alternativen Erzählung erschienen. Man kann dem Verleger Joachim von Zeppelin und der Journalistin Christine Thalmann, die diese Anthologie auf die Beine gestellt haben, nicht genug danken. Besser kann man es kaum machen. 

„Weg sein – hier sein. Texte aus Deutschland“ versammelt 19 Autor*innen aus Syrien, dem Jemen und dem Iran, die nun in Deutschland leben. Sherko Fatah hat das Vorwort geschrieben, und Michael Bothors Porträtfotografien sind so eindrücklich und sensibel, dass sie den diskriminierenden Elends- und Massenbildern eine andere Botschaft entgegensetzen können: Es kommen Menschen hierher. Keine Welle. 

In der Anthologie bringen uns diese Menschen nun ihren Alltag und ihr Leben jenseits des „Flüchtlingsdiskurses“ näher. Joachim von Zeppelin schreibt dazu: „Wir erzählen uns Geschichten, um uns zu verstehen, um Grundlagen für ein gemeinsames Leben zu schaffen.“ Und das gelingt. Wenn ich beispielsweise die ersten Zeilen des Gedichts der syrischen Dichterin Noor Kanj "Ich werde gerettet, um mich an mein Leben zu erinnern" lese, dann beginne ich zu verstehen, wie ambivalent Sehnsucht und Rettung miteinander verquickt sind: 

Ich möchte, dass ich mich sehne ... 

Ich habe ein Haus 

einen Hund 

und einen Geliebten ... 

Gegen Ende des Gedichts schreibt Noor Kann: 

Ich möchte 

dass ich vergesse 

um mich selbst zu retten ... 

Das Unglück hat begonnen ... 

Ich möchte, dass ich mich sehne 

um gerettet zu werden. 

 (Übersetzt aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch) 

Viele der hier versammelten Autor*innen sind in ihren Ländern politisch aktiv und verfolgt gewesen, einige von ihnen waren sehr erfolgreiche Autor*innen, nur die wenigsten haben bisher deutsche Verlage gefunden. Rosa Yassin Hassans Romane sind im Alawi Verlag erschienen, Rasha Abbas bei mikrotext und Orlanda, Nihad Siris im Lenos Verlag. Ayham Majid Agha leitet inzwischen das Exil-Ensemble des Gorki-Theaters. Die Werke der meisten anderen liegen auf Arabisch bzw. Farsi vor. Vielleicht kann diese Anthologie neben dem Leseglück, das sie uns beschert, und der wichtigen politischen Aufgabe, die sie erfüllt, auch noch eine Brücke in die deutsche Verlagswelt hineinbauen. Zu wünschen wäre es den Autor*innen - und uns.

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