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Literatur

Istanbul ohne Hüzün. Maria Sewcz flaniert mit der Kamera zwischen den Kontinenten

Quelle: Besprochenes Buch

Istanbul ohne Hüzün. Maria Sewcz flaniert mit der Kamera zwischen den Kontinenten

Annett Gröschner
Schriftstellerin und Journalistin
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Annett GröschnerSonntag, 30.12.2018

TR 34 ist die Bezeichnung einer der 81 türkischen Provinzen – der Provinz Istanbul mit einer Fläche von 5.343 Quadratkilometern und inzwischen 15 Millionen Einwohnern. Die Stadt Istanbul ist mit der Provinz fast identisch und viel zu schnell gewachsen, vor 40 Jahren war die Einwohnerzahl niedriger als die von Berlin. Maria Sewcz, eine der wichtigsten Berlin-Fotograf*innen, hielt sich 2016 und 2017 längere Zeit in der Stadt am Bosporus auf und hat das getan, was ihre Arbeit auch in Berlin auszeichnet: Sie ist mit der Kamera spazieren gegangen und hat die Stadt in einen Sewczschen Kosmos verwandelt, der nun unter eben jener Bezeichnung TR 34 in Buchform bei Hartmann Books (ausgewählte Bilder hier) vorliegt, hervorragend gestaltet von Carsten Eisfeld.

Die Bildpaare in Sewczs Komposition folgen dem Bild von Istanbul als einer zwischen zwei Kontinenten und zwei Meeren gelegenen Stadt der bisweilen explosiven Gegensätze – zwischen modern und traditionell, schön und hässlich, grau-verwaschen und kunststoff-bunt. Eigentlich ist unser fotografisches Bild von Istanbul sepiafarben, vermittelt in den Bildern des kürzlich verstorbenen Fotografen Ara Güler und durch den Schriftsteller Orhan Pamuk, der diesen Blick als melancholisch-vergeblich beschrieben hat, wofür es im Türkischen das unübersetzbare Wort Hüzün gibt. Hüzün fehlt in Sewczs Bildern gänzlich, ihr Bild der Stadt ist nüchterner, fremder, unbehauster. Die Künstlerin ist im besten Sinne unsentimental. Ihr Istanbul ist improvisiert, ungestaltet und in all seinen Provisorien lebendig. Ewig bedroht von dem einen großen, alles in den Abgrund reißenden Erdbeben, seit Jahren erwartet, aber unvorhersehbar. Kann sein, dass die Erde morgen alles verschlingt und nur einen Schutthaufen übrig lässt. Manche Ecken sehen aus, als habe das Erdbeben schon stattgefunden und aus den Bautrümmern leuchteten die Produkte der chemischen Industrie, wie der unvermeidliche Monobloc oder Alltagsgegenstände in grellen Farben, die an Intensität nicht verlieren, wo alles andere vom Licht ausgebleicht wird. Selbst die Hühner scheinen aus Kunststoff. Reich sieht es nicht aus, dieses Istanbul, nur selten ahnt man in den Altstadtaufnahmen die prächtigen Hinterlassenschaften des früheren Konstantinopel. Teuer sind nur die Autos, die wie übereinandergestapelt wirken. Große Gebäude werden durch größere ersetzt, deren mächtige Baumassen Schatten werfen, auf einem Bild sieht Istanbul wie das neue Shanghai aus, Armierungen warten darauf, verbaut zu werden. Menschen sind selten zu sehen, es ist eher das Menschengemachte, auch die politischen Verhältnisse geraten nur indirekt ins Bild und dann eher als Metapher, wie in dem Bild mit den bunten Ballons am Meer, die darauf warten, mit Maschinenpistolenattrappen zerschossen zu werden.

Es gibt die unscharfen Übergänge zwischen Brache und Industrie, bewohnten Gebäuden und verfilzten Grünanlagen, als Gegensatzpaare im Buch angeordnet. Mal sind es die Farben, die in Konkurrenz um die Aufmerksamkeit treten, mal die Strukturen, mal die Landschaften, die aufeinanderprallen – Hochhausviertel gegen fast unberührte Natur. Kameras an alten Holzhäusern, Bau und Krieg als konkurrierende Schlachtfelder, mit Stacheldraht bewehrte marmorne Gräber. Die Hand einer Schaufensterpuppe, die für europäische Mode von vor 100 Jahren wirbt. Der Tourismus ist abwesend.

Anders als in Berlin ist Sewcz hier eine Fremde, eine nichtteilnehmende Beobachterin. Das macht ihren Blick frei. Mögen ihre Streifzüge durch die Stadt zufällig gewesen sein, die Komposition ihres Buches ist es nicht.

Monika Rincks Text ist das poetische Pendant, vielschichtig und rätselhaft. Er beschwört die (Kalk-)Geister der Stadt, hinter der sich unzählige andere Städte verbergen. „Baugruben, gewaltig wie Bergbaufolgelandschaften.“ Und sie beschreibt, wie Sewcz durch die Stadt streifend, die Doppeldeutigkeit der Worte, die in Diktaturen eine Dimension des Politischen bekommen. „Die ganze Promenade entlang ist auf dem Boden das Wort Hayir aufgesprayt.“ Hayir heißt Nein, auf der zweiten Silbe betont Segen. „Im Segen steckt die Negation.“ Aufgeschrieben aber bleibt die Betonung eine Sache der Betrachtenden. Und mit ihr auch die Interpretation.



TR 34; Istanbul

Istanbul 2016-17

Hartmann books, Stuttgart 2018

Hardcover, deutsch|english,

Mit einem Text von Monika Rinck

Gestaltung: Carsten Eisfeld

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Kommentare 4
  1. Andreas Schabert
    Andreas Schabert · vor fast 6 Jahre

    Die Beispielbilder machen mich etwas ratlos, so unspektakulär, ja beinahe banal wirken sie. Vielleicht ist das gerade das spannende, da ich eben bei Istanbul an sepiafarben oder schwarz-weiss Portraits denke.
    Das Konzept der Bildpaare irritiert mich eher, lenkt vom einzelnen Bild ab, aber sie passen nicht immer zusammen.

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor fast 6 Jahre

    Danke für den Hinweis! Diese Fotos will ich sehen.

    Ich schätze Pamuk als Erzähler; sein Istanbul-Buch hat starke Passagen, aber es für mich auch unerträglich eitel.

    Neben herausragenden Güler-Fotos, die aber mittlerweile historisch sind, gibt es die Dutzenden Fotos auf denen Pamuk selbst zu sehen ist. Gut, dass das Buch entstand, als die Selfieseuche noch nicht ausgebrochen war. Sonst wären es wohl noch mehr Bilder von Pamuk selbst geworden.

    1. Annett Gröschner
      Annett Gröschner · vor fast 6 Jahre

      Das Gute an den Fotos Maria Sewczs ist, dass sie dieses Istanbul-Bild konsequent unterläuft, aber wahrscheinlich gar nichts so sehr aus Absicht, sondern weil es nicht ihre Art zu sehen ist. Ich habe sie dafür schon immer bewundert. So konsequent eigene Pfade in die Wirklichkeit zu schlagen.
      Und Pamuk schätze ich, auch wenn er mir manchmal zuviel erzählt, ja fast auserzählt. Und es ist eben auch ein Istanbul der Vergangenheit.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 6 Jahre

      @Annett Gröschner Einverstanden, gerade diese Art des Sehens interessiert mich.

      Die Breite bei Pamuk findet man häufig in der Region. Als ich zum Beispiel nach dem Erscheinen von "Istanbul war ein Märchen" Mario Levi (seine Vorfahren kamen um 1500 als Juden an den Bosporus) für ein NZZ-Porträt traf, war er nicht glücklich, dass Suhrkamp die Übersetzung gekürzt hatte. Meines Erachtens war das wichtig für den relativen Erfolg.

      Zeigt nicht Pamuks Roman "Schnee" nicht immer noch die bestimmenden Konflikte der Region?

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