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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
Der September ist der Sommer nach der Ektase, faul, benommen, schwelgerisch, er wirft ein diskretes Licht auf alles, was vor kurzem reif geworden war und nun zu faulen beginnt. Alles steuert auf einen Höhepunkt zu, der Geschmack und die Farben, zugleich gedämpft in verschwenderischer Zartheit und Melancholie.
Sie steht ruhig im Messegetümmel, nackenlanges dunkles Haar, ein spöttisches Lächeln. Wir suchen ein schattiges Eckchen im Hof, ein junger Mann spielt Gitarre, um uns zwitschern Gespräche. Olja Savičević ringt um Worte - sie ist eine Poetin. Ich war schon Fan ihres 2008 erschienenen Bandes grandioser Erzählungen und bin jetzt von ihrem zweiten Roman "Sänger in der Nacht" begeistert, der auf 188 Seiten eine Liebesgeschichte erzählt. In verdichteter Sprache, gespickt mit Zitaten, Gedichten, Liedern - und Briefen des Streetart-Künstlers Fink. Pomela sucht Fink, fährt seinen Spuren hinterher und gedenkt in Rückblenden ihrer (gescheiterten) Liebe. Pomela ist eine erfolgreiche Telenovela-Autorin;
Ich habe aufgespritzte Lippen und perfekte weiße Zähne, ich habe eine brasilianische Intimrasur, weiche und teure, wenn auch zerknitterte Kleidung, ich fahre ein goldenes Mazda-Cabriolet, doch ich bin eine schwarze Pomela von innen. Voller Hölle.
Wie ist jemand, der solche Sätze schreibt? Ich taste mich an Olja Savičević heran, befrage sie nach dem Verschwinden der serbokroatischen Sprache, erfahre, dass ihre Großeltern aus Montenegro stammen, ihre Mutter aus Bosnien - welche Sprache sei also die ihre? Sie ist Kroatin und schreibt Dialoge im lokalen, zeitgenössisch dalmatinischen Dialekt, der Sprache der Straße, sagt sie. Ihre Bücher sind auch alle in Serbien publiziert worden, für die serbischen Ausgaben habe sie jedoch ein kleines Wörterbuch angelegt – aber auch Zagreber hätten Schwierigkeiten, die dalmatinischen Dialoge zu verstehen.
Wie haben Sie Ihre Hauptfigur Pomela gefunden und warum schreibt sie Telenovelas?
Sie ist eine Art Heldin für mich, sie ist ein Popstar, sie ist prominent. Aber im Herzen ist sie eine Poetin und sucht eigentlich immer nach Liebe. Sie ist auf ihre Art ein komischer Charakter. Sie hat auch ihre intellektuellen Mittel und sie ist sehr erfolgreich. Es gibt eine junge Schauspielerin und Telenovela-Autorin in Kroatien, Jelena Veljača, die ebenfalls sehr erfolgreich ist und gerade jetzt eine Kampagne für Frauenrechte und Kinderrechte startet. Sie hat Aufmerksamkeit und Werbung – und in Kroatien gibt es massive häusliche Gewalt, letztes Jahr war das fürchterlich! Jelena entschied, etwas zu unternehmen, um die Regierung auf das Problem aufmerksam zu machen und zum Handeln zu bewegen. Das war wichtig, es passiert was, unser Premierminister hat mit ihr gesprochen! Meine Pomela ist ihr sehr ähnlich.
Es geht nicht sehr gut aus für Pomela …
Nein, das stimmt, aber es ist ein realistisches Ende. Ich hoffe, Jelena ergeht es besser! Ganz am Anfang hatte ich die Idee, einen Roman über die Liebe zu schreiben, die Liebe in einer postkapitalistischen Gesellschaft, einer Nachkriegsgesellschaft. Ich dachte über die Figuren nach, einen Jungen und ein Mädchen und ich entschied mich für, sagen wir, zeitgenössische Helden. Er ist Performer, cool – aber nicht erfolgreich. Und ist sie anders, prominent, nicht cool – aber erfolgreich, sie verdient Geld. Davor, als sie ganz jung waren, waren sie sich ähnlich, sie waren Dichter. Bevor sie anfing, Telenovelas zu schreiben. Sie kommt aus einer armen Familie und hat ihre Chance ergriffen.
Pomela reist im Roman umher, in ihrer eigenen Vergangenheit und in der Gegenwart, im goldenen Cabriolet. Pomela fährt tief in das "verlassene Land Bosnien hinein, durch leuchtend rote und schwarze Wälder und durch Schluchten, aus denen Augen wilder Tiere glühten..." Ich frage die Autorin, wie es zu dieser sehnsuchtsvollen Beschreibung kam?
Ja, in meiner Kindheit habe ich viele Ferien in Bosnien verbracht, weil meine Mutter aus Bosnien stammt. Ich war die ganzen Ferien in einem kleinen Dorf, das heute nicht mehr existiert. Und ich habe oft an dieses Dorf gedacht, wenn ich schrieb. An menschenleere Orte, das ist ein Gefühl, wie in Split, wenn es zu heiß ist und niemand auf den Straßen ist – dann können wir in diesen leeren Räumen ein wenig spüren, wie eine postapokalyptische Welt wäre. Es geht mir um die Atmosphäre. Bosnien war früher berühmt für seinen Humor, für die freundlichen Menschen – ich hatte als Kind viele bosnische Freunde, die Serben oder Muslime waren, das war uns egal. Heute gibt es keinen Zusammenhalt mehr in Bosnien, und unglaublich leere Räume - das zu reparieren, wird sehr sehr lange dauern.
„Patriotismus ist die letzte Zuflucht von Versagern,“ lautet ein Satz in Ihrem Roman, das gefällt mir sehr gut – woher stammt das?
Wirklich von einer Wand, das ist ein Graffito in Split, da habe ich die meisten gefunden. Dort gibt es auch die anderen Sprüche, genau das Gegenteil, über Treue, Nazisymbole…
… das ist ja langweilig …
Ja, aber es sind immer Antworten, einer antwortet dem anderen mit einem Sprühspruch. Ich mag das sehr, die Straßensprache, die Dialoge, ich fotografiere das viel und hab oft darüber geschrieben. In meinem ersten Roman habe ich das auch benutzt. Dieser Slang ist grausam, aber wahrhaftig. Die Gruppen, die sich so äußern, sind radikal und auf ihre Art sehr laut, aber jetzt haben wir die Situation, dass diese radikalen Leute Mainstream werden, und dann müssen die anderen reagieren. Das ist der Grund, warum ich Antworten auf den Straßen finde. Nicht so viele, aber es gibt sie.
Wir sitzen in Leipzig zwischen erschöpften Manga-Kostümierten und rauchenden Verlagsmitarbeitern, Anke Stelling schleicht lächelnd durch die Rauchschwaden und mein Freund schleppt einen Beutel Punk-Bücher herbei. Die Sonne hat unsere Füße erreicht, Olja streckt die Zehen in ihren Schuhen aus, als säße sie an einem dalmatinischen Kiefernhang. Vor uns das Meer. Was wünschen Sie sich für Ihr Land? Frage ich, und sie antwortet, ohne zu zögern. "Offene Grenzen. Für alle Menschen wünsche ich mir offene Grenzen. Ich denke, das ist die wichtigste Sache auf der Welt überhaupt – offene Grenzen für alle."
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