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Literatur

Mein kleiner Buchladen: "Frische Bücher" - Nenn mich November

Mein kleiner Buchladen: "Frische Bücher" - Nenn mich November

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnMittwoch, 17.10.2018

Robin kennt niemanden, der Lindenblatt heißt. Er hat den Namen noch nie gehört oder gelesen. Und dann noch Marthe. Was ja nach einer alten Frau klingt. Jung ist die auch nicht mehr, die Frau Lindenblatt.

Noch ein paar Jahre, dann bin ich fünfzig, Robin.

So hat sie es gesagt. Sie hatte ihn gefragt, wie alt er ist, und es dann offensichtlich für notwendig befunden, zu verraten, dass sie bald fünfzig sein wird. Nett. Irgendwie. Seine Mutter ist vierzig und sieht zehnmal älter aus als Marthe Lindenblatt. Vorige Woche ist ihr ein Zahn ausgefallen. Einfach so. Wenn sie lacht, was nur selten passiert, kann man die Lücke sehen. Das fällt hier im Dorf nicht auf. Fast alle Leute verlieren Zähne. Wie in einem Gruselfilm. Robin hat mal ein Buch von Stephen King gelesen. Das Monstrum hat es geheißen, und da lag ein Raumschiff mit wirklich bösen Außerirdischen drin. In einem Wald nahe einer Kleinstadt. Maine hieß die Kleinstadt, und alle Leute, die in die Nähe des Raumschiffs kamen, verwandelten sich in Aliens. Wurden wabbelig, ihnen wuchsen Tentakel aus der Möse und aus dem Arsch, und sie verloren ihre Zähne. Auch die ganz Jungen. Manchmal läuft Robin durchs Dorf und stellt sich vor, dass hier in der Nähe auch so ein Raumschiff liegt. Das den Leuten das Menschliche aussaugt und was anderes einpflanzt. Guckt man sich deren Zähne an, könnte es stimmen. 

Marthe Lindenblatt und ihr Mann David befinden sich in einem winzigen Dorf weit nördlich von Berlin. Auf den 133 Seiten vor diesem Zitat ist ihre Firma für essbares Geschirr bankrottgegangen, sind sie nach der privaten Insolvenz aufs Land geflüchtet. Jetzt leben sie im abrissreifen Haus der just verstorbenen Tante Davids von der Hand in den Mund. Internet empfängt die katastrophenmeldungssüchtige Marthe nur auf dem nahegelegenen Hügel, während David auf alten Bahngleisen durch den Wald wandert. Hin und zurück.

Ein Roman, der durchschnittlich sein könnte. Doch die Autorin Kathrin Gerlof benutzt Sprache so behutsam, wählt ihr Personal so pointiert, dass sich bald ein Rausch einstellt. Leseerlebnis als Glücksgefühl. In den persönlichen Alptraum ihres alternden Pärchens webt Gerlof mäandernde Fäden, die Dorf und Region mit Blut füllen, in sozialistische Zeiten zurückführen und noch weiter, zu den Tanzvergnügen des früheren Dorfes, zu den Zwangsarbeitern in den Baracken, die jetzt für Flüchtlinge hergerichtet werden. Zu toten Hunden, verschwundenen Frauen und selbstmörderischen Männern.

Ein seltsames Dorf und doch ein ganz normales, Missgunst lauert neben Wegsehen, Vergessen wollen neben Fluchtreflex. Ein typisch ostdeutsches Dorf und gleichzeitig einfach ein Ort irgendwo auf der Welt, der seine Funktion und Vielfalt eingebüßt hat. Vielleicht ist das Dorf Teil Gerlofs eigener Geschichte, beim Lesen dieses Artikels fand ich starke Motive aus dem Roman wieder. Während die Autorin als "die Kathrin gilt, die das Internet hat," bleibt ihre Figur Marthe weitgehend einsam, bis zum Ende des 350 Seiten umfassenden Buches wird sie kaum einer Handvoll Dorfbewohner näher gekommen sein.

Und da ist noch der Arm, der Marthe stört. „Widerlich der Arm. Das Marmeladenbrot daneben sieht obszön aus. Ein angebissenes rotes Brot und ein weißhäutiger, blauädriger Arm.“ David scheint die Marotten seiner Marthe, die er November nennt, gelassen hinzunehmen. Er hat sie schon immer geliebt. David, der immer dünner wird, dieser David "hat vom ersten Moment an gewusst, dass in mir eine Frau mit apfelrundem Hintern wohnt." Kathrin Gerlof wechselt in einem Satz die Erzählperspektive, Satzzeichen brechen den Gedankenfluß, stolpern wie Marthe über ihren Arm. Das ist zauberhaft.

Die Handlung verdichtet sich. Der Winter kommt, Marthe und David werden zaghaft sesshaft, einige Frauen des Dorfes schmieden einen Komplett gegen ihre Männer. Die beiden Dorfmagnaten Krüger und Schulz werben für entgegengesetzte Anliegen. Schulz holt Flüchtlinge ins Dorf, Krügers Männer bilden eine Bürgerwehr.

„Das Dorf rüstet sich zum Kampf. Damit hat es keine Erfahrung, denn wer tot ist, kämpft nicht. Nun aber droht Ungemach, das nicht einfach kleingeredet werden kann. Zweihundertfaches Ungemach. Dem Dorf ist es nicht einerlei. Drei Häuser haben eine schwarzrotgoldene Fahne gehisst, als ginge es gerade um den Sieg der Fußballnationalmannschaft.“

Seit 2008 veröffentlichte die 1962 in der anhaltinischen Provinz geborene Journalistin und Filmemacherin vier Romane und bereichert als sanfte Utopistin unsere Phantasie. Ihren jüngsten Roman strickt Kathrin Gerlof scheinbar harmonisch zu Ende, lässt uns mitschwimmen im Erzählstrom zum Fest hin, welches mal wieder im Dorf gefeiert werden soll. Mitschauen in die Seelen der Unzufriedenen, die einem Leben nachtrauern, das sie gehabt haben könnten. Mittendrin ein Teenager mit seiner suffkranken Mutter, ein Wilderer, 200 Flüchtlinge und das Pärchen aus der Stadt, das sich noch immer liebt. Wie soll das ausgehen?

Seit das Dorf existiert, ist es ein lebendiger Organismus. Mehr als die Summe seiner Teile, mehr als die kleine Anzahl seiner Häuser, mehr als der verwobene Horror nächtlicher Träume und auch mehr als alles Mitgefühl zusammen. Noch möchte niemand den Anfang machen. Aber es war schon immer so gewesen, dass der erste Stein auf der Straße gelegen und ihn irgendjemand irgendwann aufgehoben hat.

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