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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Wie wirkt das 20. Jahrhundert nach?

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergFreitag, 12.05.2023

Es bürgerte sich ein, die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen und der Shoah als Katastrophenzeitalter einzustufen.

Mit guten Argumenten plädiert Christoph Paret in einem Artikel dafür, den man kurze Zeit auch über blendle lesen kann, dass man auch die zweite Jahrhunderthälfte als verheerend ansehen sollte. Unsere Bilder über die vergangene Epoche bekommen Risse:

Wie es aussieht, verabschiedet sich eine ganze Fachrichtung von der An­nahme, die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts habe die Verheerungen der ersten beendet und eine bes­sere Zeit eingeläutet (Demokratisierung, Li­beralisierung, Dekolonisierung, Wohlstandsgewinne). Nicht vor, nach 1945 hätten sich katastrophale Exzesse vollzogen, die es nötig machten, nicht nur menschheitsgeschichtliche, sondern so­gar erdgeschichtliche Zeitdimensionen in Anschlag zu bringen. All dies kondensiert im Stichwort „Große Beschleunigung“.

"Wir leben nicht mehr lange"

So lautet der fatalistische Titel des Artikels; eine Lösung gibt es nicht.

Bekanntlich sah der legendäre Walter Benjamin (1892-1940) es anders als Marx, der wollte, dass der Zug der Industrialisierung von der Arbeiterklasse übernommen wird.

Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.

Klaus Dörre, der als Gesellschaftswissenschaftler an der Universität Jena lehrt, drängt Linke in dem schon etwas älteren, frei zugänglichen Essay "Das Zeitfenster schließt sich", das Vorwort zur zweiten Auflage seinen viel beachteten Buchs "Die Utopie des Sozialismus", in diese Richtung.

Denn auch das zeigt der Ukraine-Krieg: Die hohen Energiepreise, mit denen wegen des Konflikts an den internationalen Börsen gehandelt wird, sind für den privaten Verbrauch schlicht unbezahlbar. Hält die inflationäre Entwicklung länger an, wird sie die Residualeinkommen – Geld, das nach Abzug von Steuern, Sozialabgaben und Fixkosten für Miete, Heizung etc. übrigbleibt, – dramatisch senken. Einmal mehr wird sich dann zeigen, dass kapitalistischer Besitz als expansives dynamisches Prinzip zur Evolution immer aufwendige­rer Schutzmechanismen zwingt. Nachhaltigkeit bedeutet letztendlich, dieses Besitzprinzip außer Kraft zu setzen – durch kollektive Eigentumsformen, die Selbstverantwortung stärken, mit einer auf die Wirtschaft ausgeweiteten Demokratie sowie durch solidarische Rückverteilung des gemeinsam erzeugten Reichtums, partizipative Planung und einen Übergang zu nachhaltigen Produktions­ und Lebensweisen. In den Klimabewegungen, in Gewerkschaften, Umweltverbänden, politischen Parteien und der scientific community werden solche Alternativen mittlerweile ernsthaft diskutiert. Das signalisiert den Gebrauchswert konkreter Utopien, über den Oscar Wilde schreibt: »Eine Weltkarte, in der Utopia nicht verzeichnet ist, ist keines Blickes wert, denn sie unterschlägt die Küste, an der die Menschheit ewig landen wird.« Weiter heißt es: »Ungehorsam ist für jeden Geschichtskundigen die eigentliche Tugend des Menschen. Durch Ungehorsam entstand der Fortschritt, durch Ungehorsam und Aufsässigkeit.«

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Kommentare 3
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Schade, interessanter Artikel. Leider auch über Blendle nicht mehr zu bekommen.

    "Nachhaltigkeit bedeutet letztendlich, dieses Besitzprinzip außer Kraft zu setzen – durch kollektive Eigentumsformen, die Selbstverantwortung stärken, mit einer auf die Wirtschaft ausgeweiteten Demokratie sowie durch solidarische Rückverteilung des gemeinsam erzeugten Reichtums, partizipative Planung und einen Übergang zu nachhaltigen Produktions­ und Lebensweisen."

    Es hat sich eigentlich bei der versuchten Verwirklichung dieser linken Utopien gezeigt, dass dies eben nicht funktioniert. Es macht mich immer wieder etwas ratlos, wenn uns nicht mehr einfällt, als das zu wiederholen?

    1. Urs Gröhbiel
      Urs Gröhbiel · vor mehr als ein Jahr

      über Academia.edu kann man den Artikel herunterladen. Das scheint mir ein legaler Zugang zu sein.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Urs Gröhbiel Danke - guter Tipp ….

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