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Quelle: Karl van Worm / Werft auf Qeshm, Iran, 2013
Geboren 1975 in Hildesheim. Studierte Drehbuchschreiben an der Filmhochschule Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. Ausgedehnte Reisen in den Mittleren Osten, durch Asien und Ozeanien. Lebte ein Jahr in Neuseeland. Fotografiert und schreibt für Berliner Kurier, Der Freitag, Zeit Online. Er lebt mit seiner Familie als freier Autor in Berlin.
"Wir Floßbewohner können nicht ständig Charme versprühen."
Steven Callahan. Im Atlantik verschollen.
Gestern war ich krank. Erkältet, so wie die halbe Stadt. Festgehalten in einer Vorhölle aus Rotz und blanken Nerven. Und da ist noch meine Tochter, die versorgt werden will, bevorzugt mitten in der Nacht. Als ich spätabends den Müll in den Hof brachte, versuchte ich diesen Gang ganz bewusst zu genießen. Endlich war meine Freundin zurück, endlich konnte ich für ein paar Augenblicke die Wohnung verlassen. Ich trat auf jede Treppenstufe als sei sie heilig, lief durch die Tür und atmete die kalte, gute Herbstluft. Wie ein Gefangener, der sich nach ein paar Runden im Kreis sehnt, zog ich los zu den schwarzen, gelben und blauen Mülltonnen. Aber ich war fiebrig und verschwitzt, der eisige Wind pfiff in meinen Nacken. Es sollte wohl kein Entkommen geben. - Ich schmiss die Windeln in den Müll und sah, dass auf den Altpapier-Tonnen ein Stapel Bücher lag. Ein Taschenbuch versprach interessant zu sein. Ich schlug es auf und las: „Die Freiheit der See lockt die Männer. Doch Freiheit ist nicht umsonst zu haben!“ - Oben in der Küche wusch ich das Buch mit Spüli und Schwamm unter fließendem Wasser ab. Es war aus einer Bibliothek aussortiert worden und hatte einiges abbekommen. Dann legte ich es neben mein Bett, verschlang es und wurde gesund...
Steven Callahan. Aufgebrochen von den Kanaren, erleidet der amerikanische Segler am 4. Februar 1982 um 23 Uhr Schiffbruch. Der Grund, so vermutet Callahan, ist der Zusammenstoß mit einem Wal. Der Dreißigjährige kann ein paar Dinge von der Napoleon Solo – seiner kleinen Yacht – zusammenklauben und sich auf eine Rettungsinsel flüchten. Drei Minuten später findet er sich im endlosen Grau des Atlantiks wieder. Seine Yacht ist gesunken.
Die Rettungsinsel, ein besseres Schlauchboot mit einem Durchmesser von einem Meter siebzig, ist für vier Tage ausgelegt. Sofort wird Callahan klar, dass er darauf höchstens zwei Wochen überleben kann. Zu seinem Unglück ist er dreihundert Seemeilen von einer Schiffsroute entfernt.
„Verzweiflung schüttelt mich. Ich möchte heulen und rede mir stattdessen ernsthaft ins Gewissen. Halt die Tränen zurück, würg sie runter. Du kannst dir den Luxus von Wasserverschwendung nicht leisten. – Ich beiße mir auf die Lippen, schließe die Augen und weine innerlich. Überleben, konzentrier dich aufs Überleben. Unter mir habe ich zwei Meilen Meer. Kein Hauch von Leben ist in den Tiefen unter mir zu sehen, aus denen ich vielleicht eine Mahlzeit holen könnte. Die See ist zu rau, um die Solar-Destillation zu Wasser zu bringen. Im Augenblick kann ich nur hoffen, gefunden zu werden.“
Kurz darauf sichtet Callahan ein Schiff – er befindet sich siebenhundert Seemeilen südwestlich der Kanaren - und feuert die Hälfte seiner Leuchtsignale ab. Vergeblich. Die Lichter verglühen. Das Schiff fährt weiter.
„In allen Einzelheiten zieht mein Leben vor meinem geistigen Auge vorüber, wie ein zweitklassiger, zu oft gezeigter Film. Ich versuche meine Gedanken auf die Dinge zu konzentrieren, die ich tun werde falls man mich rettet. Ich werde mehr Zeit mit meinen Eltern und meinen Freunden verbringen, werde ihnen zeigen, dass ich sie liebe. Tagträume und Zukunftspläne vom Leben daheim, von Schiffs- und Rettungsinsel-Entwürfen und von großen beglückende Mahlzeiten lindern meine Verzweiflung. Schluss damit! Du bist nicht dort! Du bist hier! Im Fegefeuer! Gib dich keinen falschen Hoffnungen hin!“
In den folgenden Wochen wird er neun Schiffe sichten - doch sie werden ihn nicht wahrnehmen, nicht aufnehmen, nicht retten. Auch seine letzten Leuchtsignale brennen ab.
„Der Wunsch zu träumen hält sich hartnäckig. Das ist meine einzige Erleichterung. Langsam schließe ich mit den Enttäuschungen in meiner Vergangenheit Frieden. Und beginne einzusehen, dass ich über einige wertvolle Erfahrungen verfüge, die vielleicht sogar ausreichen, um hier zu überleben. Wenn ich das durchstehe, werde ich in der Lage sein, ein besseres Leben zu führen. Träume, Ideen, Pläne bilden nicht nur Fluchtmöglichkeiten, sie geben mir auch ein Ziel, einen Grund zum Durchhalten“, sagt er am vierten Tag.
Seine anfänglichen Erkenntnisse sind nicht umwerfend originell. Aber jeder Leser merkt bald, dass man keine Angst zu haben braucht vor billiger Lebensweisheit. Denn getragen wird dieses Buch von etwas Handfestem und Konkretem, das einen existenziellen, ja magischen Status erlangt. Das praktische Gelingen seines Überlebens – Trinkwasser zu gewinnen, Nahrung zu finden, Hai-Attacken zu überleben – entwickelt sich zu einem finster leuchtenden Märchen. Gleichzeitig entpuppt es sich als Märchen vom Nicht-wahnsinnig-Werden.
Callahan hat Glück, er ist relativ gut ausgerüstet. In dem Sack, den er für eine etwaige Katastrophe bereitgelegt hatte, ist eher zufällig - der Ordnung in der Kajüte halber - eine Harpune gelandet. Außerdem hat der erfahrene Segler zwei ausrangierte Destillationsapparate dabei, um Trinkwasser zu gewinnen. Doch ihm ist klar: Mit den mangelhaft funktionierenden Gerätschaften wird er nicht lange über die Runden kommen, und wir werden Zeugen, wie andauernder Sturm, sengende Äquator-Sonne, ätzendes Salzwasser und blutrünstige Fische alle Geräte und die Rettungsinsel zermürben, zerfressen und zerstören.
Selten wird einem die eigentliche Bedeutung von Werkzeug so bewusst wie hier. Eine Gabel, ein Stück Angelschnur, eine zerbrochene Messerklinge, ein Haken, ein verschließbares Plastik-Gefäß, die Harpune, ein Bleistift – alles wird lebenswichtig, aber alles wird zwangsläufig so strapaziert, dass es auseinander fällt. Doch es darf nicht auseinander fallen, es MUSS funktionieren, will unser Held weiterleben. Wieder und wieder repariert und improvisiert er unter abenteuerlichsten Bedingungen seine Geräte; und die ersten Menschen muss das gleiche Staunen und die gleiche Erleichterung überfallen haben, als sie den Faustkeil bei ihrem Mitmenschen erblickten, wie sie uns überkommt, wenn Callahan die Rettungsinsel, aus dem die Luft entweicht, mit einer Gabel (!) repariert, während fünf Meter hohe Brecher um ihn toben.
„Ich dachte die Fische würden auseinanderflitzen, und mich so auf einen Hai aufmerksam machen, aber jetzt weiß ich, dass ich mich bei Annäherung von Gefahr nicht auf sie verlassen kann. Mit schlimmsten Befürchtungen gehe ich jeden Abend zu Bett und mit schlimmsten Befürchtungen erwache ich jeden Morgen. Meine Wünsche sind ganz schlicht geworden und wiederholen sich ständig. (...) Die Rettungsinsel wird angehoben und zur Seite geschleudert, als hätte der Stiefel eines Riesen dagegengetreten. Die scharrende Haut eines Hais lässt das Gummi aufquietschen, als ich aus dem Schlaf schrecke.“
Es handelt sich um einen fürchterlichen Lern- und Anpassungsprozess. Auch eine Verrohung ist unvermeidlich. Bald gibt es keine Momente mehr, in denen er frei von Durst, Hunger, und Schmerz – das Salzwasser sorgt dafür, dass kein Quadratzentimeter seiner Haut ohne Ekzeme bleibt - ist. Die Anstrengungen werden übermenschlich.
„Sie sind hinter mir her. Wenn ich ins Wasser falle werden meine Hündchen mich verschlingen. Visionen von Hitchcocks Die Vögel wirbeln mir durch den Kopf. Vielleicht haben die Fische der Welt ein Konzil abgehalten, haben den unersättlichen Appetit der Menschen und die Ausbeutung der Meere verdammt. Die Menschheit hat das gerechtfertigt, indem sie es als Nutzbarmachung von Ressourcen durch eine überlegene Rasse bezeichnet. Die Geduld der Fische mit diesem Egoismus ist am Ende angelangt. Ich sehe sauber abgenagte Matrosen-Skelette vor mir, deren leere Augenhöhlen zu der flackernden Oberfläche hochstarren, während sie in dunklen Tiefen versinken. Warum tun die Goldmakrelen das? Warum befinden sie sich in derartiger Raserei? Wie können simple Fische dermaßen erschreckend sein? Wumm! Ein gewaltiger Schlag gegen meinen Rücken, klatschende Schläge rasen wie Maschinengewehrfeuer über den Boden des Floßes. Gummi quietscht, die Rettungsinsel wird vollständig aus dem Wasser gehoben und kracht wieder zurück. Haiattacke!“
Dennoch. Es wird zwei Wunder geben: Eine "Freundschaft", die schier unglaublich ist und ihm das Leben rettet. Und ein Werkzeug, das unser Held "Verstand" nennt. Aus dieser Erfahrung erwächst die schönste Erkenntnis Callahans. Es ist die Erkenntnis, dass er sich nie auf seine Instinkte verlassen darf, denn diese befehlen ihm ununterbrochen, seine spärlichen Wasservorräte sofort auszutrinken, anschließend einzuschlafen, die Hoffnungslosigkeit anzuerkennen und auf der Stelle aufzugeben – mittlerweile wurde seine Rettungsinsel von Wind und Strömung bis in die Mitte des Atlantiks zwischen Westafrika und Südamerika getrieben.
Daneben ist der junge US-Amerikaner mit zwei Wunderwaffen der Menschheit gesegnet: Humor und Understatement. Nach Hai-Attacken, Delirien, Stürmen, der Zerstörung seines Floßes sind Zitate wie diese nicht selten:
„Es bringt die Frisur durcheinander, aber das Gebiss lockert es nicht.“ Und, apropos Frisur: „Meine Krone ist ganz verschwunden, aber erstaunlicherweise schmerzt der Zahn kein bisschen, der Nerv muss abgetötet sein. Dem Himmel sei Dank für kleinere Wunder. Seit zwei Tagen habe ich nicht mehr geschlafen. Meine Haut ist weiß, und selbst meine Falten haben noch Falten. Verfilzt und tropfend hängen meine Haare am Kopf. Fischschuppen kleben wie Nagellacksplitter an mir. Ich muss wie eine richtige alte Hexe aussehen. Na ja, wir Floßbewohner können nicht ständig Charme versprühen.“
Zuerst atmet dieser Bericht den „ganzheitlichen“ Charme der Siebziger und Achtziger Jahre, der einem etwas naiv und veraltet vorkommt. Der einigen auch auf die Nerven gehen wird. Doch dieser Aspekt verliert von Seite zu Seite jede Bedeutung. Und wenn man mit Callahan am Ende in X ankommt, wird die enorme Erleichterung des Lesers zu einem erhebenden und reinigenden Gefühl. Gestärkt und erheitert geht man aus der Lektüre hervor. Jeder Mensch sollte dieses Buch in seinen Medizinschrank legen oder zumindest in den Schuhkarton zu dem Werkzeug. Jeder Mensch, ganz gleich welchen Geschlechts, welcher Nationalität, welcher Religion, welcher Schuhgröße. Denn diese Geschichte eines Menschen, der nur noch eine Unterhose und ein T-Shirt am Leib trägt, eine Handvoll Utensilien zu Werkzeugen umwandelt und um seinen Verstand kämpft, könnte eines Tages von größtem praktischen Nutzen für jeden von uns sein. Schließlich leben wir in einer Zeit der Schiffbrüchigen, der Verzweifelten, der um ihr Leben kämpfenden, der Ertrinkenden. Vor allem uns Europäern war das nie klarer als jetzt.
Callahan: „Ich hätte gerne meine Angst begraben. Aber das ist schwer, wenn man sie nicht mit Aktivitäten zudecken kann. Wenn ich überleben will, dann muss ich so viel Energie wie nur irgend möglich sparen. Jede Bewegung verbrennt mehr Treibstoff in dem Motor meines Körpers. Dampf steigt von meiner trockenen Haut auf. Ich kümmere mich um die Destillation und halte nach Schiffen Ausschau. Wenn die richtige Zeit gekommen ist und die Sache erfolgversprechend erscheint, werde ich wieder fischen. Die restliche Zeit sitze ich still da und versuche mich abzulenken. Ich arbeite Entwürfe aus für Schiffe und Rettungsinseln, die ich nach meiner Rückkehr nach Maine in meinem warmen, trocknen Büro vollenden werde. - Es tröstet und beruhigt mich, über die vielschichtige Realität nachzudenken. Die heißen Weizenbiskuites gestern Nacht waren fast so gut wie echte Biskuits. Ich beginne den Traum vom Essen zu lieben, anstatt die verführerische Vision zu hassen. Im Traum komme ich der Sache am nächsten, und Speis und Trank nahe zu sein ist besser als gar nichts.- Ich lebe sowohl in der Wirklichkeit, als auch im Traum, ich bin nun von wilden Welten umgeben: Der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft - dem Bewussten und dem Unbewussten, dem Greifbaren und der Phantasie. Ich versuche mich davon zu überzeugen, dass lediglich die Gegenwart höllisch ist, dass all die anderen Welten unberührbar sind, sicher vor jeder Gefangenschaft. Ich wünsche mir verzweifelt, diese anderen Welten vor Schmerz und Depression zu bewahren, damit ich mich zu ihnen flüchten kann, wenn mir danach zumute ist. Meine eigene Propaganda ist berauschend. Aber ich kenne die scharfen, durchdringenden, beherrschenden Qualitäten der Realität. Steven Callahan kann nicht einfach auf und davon fliegen!“ Doch, Steven Callahan, es ist dir gelungen.
Im Atlantik verschollen, Steven Callahan, Piper, 1994, ISBN 3-492-11798-8. Die Originalsausgabe erschien 1986 unter dem Titel "Adrift" bei Houghton Mifflin Company, Boston.
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