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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
„Vom Kampf der jungen Garde“ lautet der Untertitel des 1953 im Verlag Neues Leben Berlin erschienen Buches. Halbleinen, 144 Seiten, der Autor ein Jan Rolfs. Hinter dem Pseudonym des in 10tausender Auflage gedruckten Tagebuchs verbirgt sich Ralf Giordano.
Es ist weltweit nicht kaufbar. Das vor mir liegende Exemplar ist stark gebräunt und an einer Ecke gestaucht. Die Widmung im Vorsatz, auf später ausradierten Linien in Schönschrift gemalt, lautet: „Für Ausgezeichnete – Leistung in der Ring – Frei – Sendung/ Silvester 1955/ FDJ Organisation/ Weschke“. Die gedruckte Widmung des Autors gilt Unserem Kraftquell – der Deutschen Demokratischen Republik. In kurzen Kapiteln berichtet der Ich-Erzähler aus der Zeitspanne eines Jahres (1951-1952). Jugendliche malen in Hamburg Parolen wie „AMI – GO HOME“ an Mauern, diskutieren, agitieren ihre Mitmenschen und lesen.
„Ich lese jetzt Stalins Werk ,Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft'. Ja, Stalin ist der größte Wissenschaftler unserer Zeit, neben Marx und Engels und Lenin einer der größten Menschen überhaupt. Wie wunderbar einfach seine Sprache, wie genial seine Formulierungen! Ich verehre Stalin. Wenn ich an Stalin denke, kommt stets ein große Ruhe über mich...“
Giordano lebte erst zwei Jahre nach dieser Veröffentlichung für einige Monate in der DDR, nahm von Oktober 1955 bis Juni 1956 am ersten Lehrgang des Instituts für Literatur in Leipzig teil. Angeblich ernüchtert verließ er die DDR, trat aus der KPD aus und rechnete in seinem Buch Die Partei hat immer recht mit Partei und Kommunismus ab. Hierin gab er selbst einen Hinweis auf sein Westdeutsches Tagebuch, um einer Enthüllung durch seine ehemaligen Genossen zuvorzukommen.
Sich selbst erklärt Giordano in seinem 2009 bis 2010 verfassten Tagebuch Mein Leben ist so sündhaft lang die „Pappnasenhaftigkeit meiner damaligen Parteiexistenz“ durch das ungeheure Bedürfnis nach Zugehörigkeit. „Also das, was mich nach der langen Isolation der zwölf Nazijahre zur KPD gebracht hat. Sie war die erste Organisation, die mir die Tür zum Schreiben aufgestoßen hat… dabei hatte ich mich verlaufen.“
Es war ein Kampf auf der falschen Seite der Weltgeschichte, schreibt er mit 60 Jahren Abstand, und: „Summa Summarum – das Westdeutsche Tagebuch war so etwas wie der Tiefpunkt meines politischen Lebens. Ich gebe mir Mühe, mich in den Giordano von damals zu versetzen, aber es will mir nicht gelingen ...“
Schlimmer als einen politischen Irrtum zu begehen, sei es, keine Konsequenzen aus ihm zu ziehen. Sein Westdeutsches Tagebuch scheint schon 2009 beinahe vergriffen gewesen zu sein, das kann Giordano so nicht stehen lassen – er sucht über das Internet und „da ich technisch zu doof bin, hetzte ich meinen guten Freund ... darauf“. „Gockelhaft, diese Erklärung“, ruft mein Freund, der mir gerade über die Schulter schaut.
Zitat aus Mein Leben ist so sündhaft lang:
„Nun halte ich also nach fast sechzig Jahren das Corpus delicti in den Händen, sichtlich abgegriffen, auf dem Cover einen fackeltragenden Unhold, hinter dem mit Schlagstock ein verzerrtes Polizistengesicht auftaucht, und ein Inhalt, den ich selbst mit einer Feuerzange nicht mehr anfassen möchte. Bei der Lektüre muss ich einen lächerlichen Anblick geboten haben, da saß ich kopfschüttelnd und immer wieder unterbrochen von Selbstanklagen wie 'Das kann doch nicht wahr sein!' oder 'Nein, um Himmels willen, Nein!' Ich werde das vergilbte Buch aus dem Jahre 1953 noch eine Weile hier behalten und dann an meinen Nachlass im deutschen Literaturarchiv abgeben. Den Leuten, die sich später vielleicht daran machen werden, soll mitgeteilt werden, was für ein Idiot ich mal gewesen bin, auch wenn' s lange her ist.“
Das Westdeutsche Tagebuch ist tatsächlich kaum lesbar. Giordanos flammende Stalin-Verehrung ist ein Kuriosum, welches wieder auf den Buchmarkt gehört. Ich werde mich schnell davon trennen.
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