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Spionin, Detektivin oder Archäologin wollte ich eigentlich werden. Dann reichte es nur zur Schriftstellerin. Zumindest kann ich seitdem meiner Passion im Recherchieren nachgehen. Bislang hielt ich mich dazu in verschiedenen Ländern, wie Portugal, Österreich, USA oder Japan auf. Mein letzter Roman "O.", eine Neuschreibung der Odyssee aus weiblicher Perspektive, ist im März 2020 erschienen. Außerdem gibt einen neuen Essayband mit dem Titel "Erfundene Heimaten". Zurzeit arbeite ich an einem Projekt, das sich mit der Darstellung von Historie in aktuellen literarischen Werken beschäftigt.
Meine erste Lektüre dieses Buches geschah zufällig und beiläufig. Das zweite Mal las ich Edmund de Waals „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, weil ich herausfinden wollte, mit welchen Mitteln der Autor sein historisches Material in erzählte Geschichte umwandelt.
Das Buch stellt eine Besonderheit insofern dar, als der englische Keramiker das Schicksal seiner jüdischen, aus Odessa stammenden Familie, weder als Historiker noch als Schriftsteller erforscht. Der mit seinen Händen arbeitende Künstler stellt Gegenstände in den Mittelpunkt seiner Erkundungen, welche ein Verbindungsglied zwischen den Generationen bilden. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Netsuke, winzige aus Elfenbein und edlem Holz in Japan geschnitzte Skulpturen, die sein Urgroßonkel Charles im Zuge der Pariser Mode des japonisme erworben hatte. Sie allein überstanden den Niedergang der vermögenden jüdischen Familie Ephrussi und landeten schließlich im Besitz de Waals. Diese Objekte, ursprünglich gemacht, um sie mit sich herumzutragen und zu betasten, mit den Fingern zu erkunden, sind das einzige, was nach Vertreibung und Enteignung geblieben war.
Um der vergangenen Größe nachzuspüren, ruft de Waal haptisches Erinnern, den Tastsinn und das Raumgefühl auf. Er will so die damaligen Lebensumstände nachvollziehbar machen, die Diaspora der Familienmitglieder und ihres Besitzes zumindest mithilfe dieses Buchs aufheben. Wo die materielle Wiedergutmachung nicht gelingt, - ein langes Kapitel widmet sich dem erfolglosen Bemühen seiner Großmutter, das arisierte Vermögen und den Familiensitz an der Wiener Ringstraße zurückzuerhalten -, soll der Übervorteilten und Verfolgten zumindest mithilfe dieser Rekonstruktion gedacht werden.
Zudem symbolisieren diese Objekte die einstige geographische und gesellschaftliche Reichweite der Ephrussis: In Paris waren die Netsuke von dem mondänen Charles erworben worden, der sich in Künstler- und Schriftstellerkreisen bewegte. Dann gelangten sie als Hochzeitsgeschenk an de Waals Urgroßeltern, die im Wiener Palais lebten, wo sie zum Spielzeug für deren Kinder wurden, bevor die Familienmitglieder mit der Machtübernahme Hitlers nichts als ihre Leben retten konnten. Neben einem Nachfühlen mithilfe von Gegenständen beschäftigt sich de Waal auch mit den Räumen, in denen diese untergebracht sind, bringt ausführlich Interieurs, architektonische Details, Überlegungen zur Akustik ins Spiel. Alle Sinne jenseits des Sehsinns werden in diesem Erzählen bedeutsam und transponieren das vergangenen Lebensgefühl in die Gegenwart.
Mit einem dramaturgischen Trick, der Einführung von Anna, des Wiener Dienstmädchens der Familie, welches anscheinend das Palais nie verlassen hat und deshalb die winzigen Gegenstände unter den Augen der Arisierer in ihrer Schürzentasche davontragen konnte, hellt de Waal seine düstere Geschichte etwas auf. Anna versteckte die Netsuke unter ihrer Matratze und schlief all die Kriegsjahre wie eine Prinzessin auf der Erbse darauf, berührte die Erinnerung an vergangene Lebensformen mit ihrem Körper. Jedes einzelne Schnitzwerk wird so zum Signal des Widerstands gegen die völlig Umwertung des Alltags unter dem Naziregime. Anna dient dem Autor außerdem als Kontrast zur ausführlich dokumentierten Geschichte seiner einst vermögenden und privilegierten Vorfahren. Während diese unzählige Verschriftlichungen vorweisen können, - so war etwa Charles mit Marcel Proust bekannt, der sogar einen Nachruf auf ihn verfasste, so schrieben sich Großmutter Elisabeth und der Dichter Rilke Briefe, so findet de Waal in den Gesellschaftsspalten damaliger Zeitungen die Namen und Kleidungsvorlieben seiner Vorfahren wieder - , ist von Anna nicht einmal ein Nachname zu eruieren. Sie verkörpert sozusagen den guten Geist des Hauses, ein Gegengewicht zur gängigen Wiener Bosheit. Ansonsten ist de Waals Urteil über diese Stadt meist vernichtend, die Ringstraßenarchitektur sei eine Potemkin’sche Kulisse für den Triumphzug der Nazis, die Bereitwilligkeit der Wiener Hitler zu empfangen, überzogen mit einer Schichte aus Zuckerguss und Schlagobers.
Die Effekte seines Buches in der realen Gegenwart waren enorm. Aufgrund des Erfolges konnte 2014 der Roman seiner Großmutter Elisabeth de Waal über ihren Kampf um Restitution kurz nach Kriegsende unter dem Titel: „Donnerstags bei Kanakis“ veröffentlicht werden. Außerdem wurden 2019 ein Teil der Netsuke, de Waals Recherchematerialien, Fotografien, Briefe, Gemälde in einer großen Ausstellung im Jüdischen Museum in Wien gewürdigt. De Waals künstlerische Arbeiten erfuhren durch die weltweite Bekanntheit des Buches eine Aufmerksamkeit, die sie ohne seine sorgfältig aufbereitete Familiengeschichte nicht erreicht hätten.
Die Erfahrung von Orten und Gegenständen, die Materialität von Dokumenten und Fotografien bilden also neben ihrem Informationswert einen wesentlichen Impuls dieser Erinnerungsarbeit. Um Historie in persönliche Fälle überzuführen, mit denen sich die Menschen der Gegenwart identifizieren können, setzt de Waal sinnliche Erfahrbarkeit ein. Wo Proust die Kategorie des Erinnerns mittels Geruch und Geschmack in die Literatur einführte, kann de Waal als Begründer des haptischen Erinnerns gelten, das es ermöglicht, emotionale Reaktionen im Heute hervorzurufen.
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Sehr schöne Besprechung des Buches, die mich neugierig machte, und daher habe ich das Buch gekauft. Bin momentan noch in der Wiener Zeit, manchmal ist mir das schon sehr langatmig, die vielen Details über das Leben der Finanz-Elite damals. Auf der anderen Seite ist der Gesamt-Kontext natürlich sehr interessant, und es gibt viele sehr schöne und berührende Momente, z.B. wenn er beschreibt, wie es ihm selbst in dieser Recherche geht. Interessant, dass so ein ungewöhnliches Buch so erfolgreich sein konnte. Danke für diesen Piqd.