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Literatur

Die Ästhetik des Widerstands — Das Buch der Stunde

Die Ästhetik des Widerstands — Das Buch der Stunde

Annett Gröschner
Schriftstellerin und Journalistin
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Annett GröschnerFreitag, 11.11.2016

Nachdem am gestrigen Morgen das Katastrophale Wirklichkeit geworden war, nachdem die Verachtung all dessen, was nicht weiß und männlich ist, in Gestalt einer autoritären Führerfigur Macht über die Welt bekommen hat, nachdem im Netz die Mutmaßungen, Schuldzuweisungen, Besserwissereien den Schockzustand aufhoben, dachte ich, es ist Zeit, die Geräte auszumachen und über die Dorfstraße in die Bunte Stube zu gehen, um einen Roman zu kaufen und sich die Welt mit Literatur erklären zu lassen und nicht mit Meinung.

Kein anderes Buch als Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss hat erzählt, wie der Faschismus an die Macht kam und der Widerstand dagegen an der Zersplitterung der Linken scheiterte und im Stalinismus endete, der für lange Zeit eine sozialistische Alternative diskreditierte. Mit dem Fall der Mauer haben wir geglaubt, dass sich das Thema erledigt hat, dass Weiss’ Auseinandersetzung historisch ist. Das hat sich spätestens in den letzten Monaten geändert. Zeit also, Peter Weiss' Opus magnum wieder aus dem Bücherregal zu nehmen oder, besser noch, die gerade bei Suhrkamp erschienene vollständige Ausgabe zu kaufen.

Als ich das Buch vor dreißig Jahren in Ostberlin das erste Mal las (zusammen mit Westberliner Studenten, mit denen wir einen heimlichen Lesekreis bildeten), war es für mich eine Offenbarung (was die Fakten anging mehr noch übrigens die dazugehörigen Notizbücher), wobei mich der Weg in den Stalinismus mehr interessierte als der in den Faschismus. Gleichzeitig bekam ich Nachhilfe in Ästhetik, in einer Form, wie es mir die sozialistische Universität nicht zu vermitteln vermochte, weil sie alles verschwieg oder hinter vorgehaltener Hand in Rätseln hinhauchte, was mit dem Stalinismus zu tun hatte, als hätte es Stalin nie gegeben.

Es gibt viele Kapitel, die mir unvergessen sind. Der Beginn, als Coppi, Heilmann und der Erzähler vor dem Pergamonfries stehen und anhand der steinernen Leiber die Menschheitsgeschichte durchdeklinieren.

Oder das Kapitel über die Entstehung von Gericaults Gemälde Floß der Medusa, das ich fünf Jahre später zum ersten Mal im Louvre im Original bewundern durfte; nicht zu vergessen die Auseinandersetzung darüber, was ästhetisch wichtiger für die Arbeiterbewegung war: Kafkas Schloss oder Neukrantz’ Barrikaden am Wedding.

Jetzt sollten wir den Roman noch einmal lesen, als Folie für die Gegenwart, auch wenn sich Geschichte bekanntlich nur als Farce wiederholt, nicht als Tragödie.

In wenigen Stunden beginnt im Peter-Weiss-Haus in Rostock die Stafettenlesung des Romans, 50 Stunden nonstop, 100 Vorlesende, live und per Video (Ablauf). Der Livestream ist auch im Netz zu verfolgen.

Wer nicht selbst lesen will, dem sei die Hörspielbearbeitung des Bayrischen Rundfunks empfohlen, hier frei abrufbar.

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Kommentare 4
  1. Annika Reich
    Annika Reich · vor 8 Jahren

    Liebe Annett, liebe Kolleg*innen vom Literatenfunk, ich finde, das ist die Serie der Stunde, die wir hier im Literatenfunk beginnen sollten: Was soll man lesen, jetzt, in dieser Zeit, um den Rechtsruck besser zu verstehen und ihm etwas entgegensetzen zu können? Mit welchen Texten rüsten wir uns? Ich werde demnächst über Achille Mbembe "Kritik der schwarzen Vernunft" piqen - auch ein Buch der Stunde, wie ich finde. Welche Bücher fallen Euch noch ein? Meine nächste Lektüre nach Mbembe wird Fatima El-Tayeb über die postmigrantische Gesellschaft und den europäischen Rassismus sein.

    1. Annett Gröschner
      Annett Gröschner · vor 8 Jahren

      Liebe Annika, das ist eine gute Idee. Auch die Bücher, die uns trösten, sollten nicht vergessen werden. Und die, die uns in fremde Welten mitnehmen. Uns gegen den Hass wappnen. Und Solidarität lehren.

    2. Annika Reich
      Annika Reich · vor 8 Jahren

      @Annett Gröschner Ja! All das.

  2. Marcus von Jordan
    Marcus von Jordan · vor 8 Jahren

    Das Hörspiel ist toll, vielen Dank. Der Macher Karl Bruckmaier ist übrigens auch Kurator hier im Kanal Musik und Subkultur.

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