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Fundstücke

Unsere Intellektuellen und wir in Corona-Krisen-Zeiten

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSamstag, 12.09.2020

In der Krise werden unsere Spezialisten fürs Große und Ganze und das Allgemeine oft befragt. Und ein offenes Streitgespräch zwischen Intellektuellen, Philosophen und anderen Großdenkern könnte in der Tat interessante Ergebnisse erbringen. 

Der Autor Gunnar Kaiser, Schriftsteller und Philosoph, beklagt nun, dass bis auf wenige Ausnahmen die Intellektuellen einerseits zu radikalen Fürsprechern der auf starke Interventionen setzenden Staaten werden und dabei andererseits für ihre eigenen Gesellschaftsutopien trommeln.

Ein Blick auf die Wortmeldungen der letzten Monate zeigt: Neben einigen wenigen Mahnern mit ihren Warnungen vor der «Machtergreifung der Securitokratie» (Sloterdijk), vor der «rhetorischen Ausschlachtung von Bevölkerungsängsten» (Zeh) oder vor dem «ständigen Ausnahmezustand», dem wir unsere Freiheit geopfert hätten (Agamben), ergriffen vor allem die «Ewigmorgigen» die Gelegenheit, für ihre Weltverbesserungsvorschläge Werbung zu machen. Von wem also lernen?

Ein wirkliches Streitgespräch scheint nicht zustande zu kommen - ein Grund mehr dies als Bürger hier selbst zu führen. Sicher, in Zukunft stehen große Aufgaben, Probleme vor den Völkern. Insofern kann ich verstehen, wie wichtig ein Staat ist, "der einschreitet und kontingentiert (Precht)". Aber ist deshalb

die Corona-Krise ... eine «Art gesellschaftliches Trainingsfeld unter Extrembedingungen» für einen Grossakteur, dem in Zukunft mehr «regulierende Verantwortung» (Reckwitz) zufallen wird.

Sind nicht die Inhalte (etwa bei der Klimaproblematik) und die Zeiträume völlig andere? Muß man nicht erstmal auch die Folgen analysieren, Fehler und positive Erfahrungen abwägen?

Befremdend ist nicht nur, wie selten die Ewigmorgigen, die so denken, die verheerenden Nebenfolgen der Interventionen überhaupt in Betracht ziehen. Bedenklich ist auch, wie schnell sie die nun vorherrschende Rhetorik der «neuen Normalität» übernommen haben – als hätten sie auf nichts sehnlicher gewartet.

Dass Intellektuelle für die volkswirtschaftlichen Verheerungen, das große menschliche Leid und die langen Zeiträume der Wirkungen und Nachwirkungen der Realisierungsversuche von Utopien ihrer Vorgänger oft blind sind, wissen wir. Dadurch läßt sich schlecht lernen. Vielleicht kommt daher auch das folgend beschriebene Verhalten:

Nicht nur, dass maximalinvasive Verordnungen beinahe klaglos hingenommen werden, sie werden auch als alternativlos verteidigt. Kritik hingegen wird mit einer gefährlichen Mischung aus Empathielosigkeit und Moralismus unter den Verdacht des Extremismus gestellt. Wer fragt, wie lange die Einschränkungen noch dauern und wie weit sie denn noch gehen sollen, steht schnell als Wehrkraftzersetzer da.

Hat Schelsky recht und wir Menschen "im wissenschaftlichen Zeitalter (werden) Zeuge der Aushöhlung der Demokratie zugunsten eines rein technischen Staates"?

Und stimmt dann auch Marcuse's Warnung vor der "Reduktion der Kultur auf eine technologische Rationalität" in der eine technokratische Herrschaftswissenschaft, 

die sich aus Furcht vor einer Reflexion über grundsätzliche gesellschaftliche Probleme in die Empirie flüchtet ... die Krise nur noch verwaltet. So gestaltet sich die offizielle Antwort auf die Pandemie nur noch als Sache wissenschaftlicher Institutionen, die, obwohl sie seit Monaten im Dunkeln tappen, quasi weltweit die Marschrichtung vorgeben.

In die selbe Richtung geht Michel Foucaults Analyse der Reaktion auf die Pest der frühen Neuzeit:

In «Überwachen und Strafen» (1975) geht er dem Gedanken nach, dass die Behörden die Pest nutzen konnten, um ihre normative Macht auf Individuen anzuwenden. Das Ziel war die Erzeugung einer gesunden Bevölkerung. Als Mittel erhielten Kontrolle und Disziplinierung «bis in die feinsten Details der Existenz» ihre Rechtfertigung. Diese Machtmittel waren nach dem Verschwinden der Pest dann Bestandteil der neuen Normalität ......

Beschreibt Foucault damit auch die Zeit nach Corona, die eigentlich "eine Zeit mit Corona" bleibt? 

Es gibt sicher keine einfachen Antworten, die Zukunft ist offen aber wir können sie mitgestalten - in dem wir über das Heute streiten und dann versuchen möglichst vernünftig zu handeln. 

Unsere Intellektuellen und wir in Corona-Krisen-Zeiten

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Kommentare 14
  1. Nutzer gelöscht
    Nutzer gelöscht · vor 4 Jahren

    Dass eine Zeit nach Corona auch immer eine "mit" Corona, bzw. der ständigen Gefahr des nächsten Ausnahmezustands sein könnte, liegt auf der Hand. Interessant finde ich v.a. die Frage, welche Selbstdisziplinierungsmaßnahmen wir uns als Gesellschaft jetzt auferlegen können, um solche staatlichen Übergriffe zukünftig, wenn schon nicht zu vermeiden, dann doch zu minimieren!? Any idea?

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      Schwierige Frage. Ich glaube, da sind die Betroffenheiten und Interessen zu verschieden. Während meine Kollegen/Freunde die angestellt im Büro arbeiten locker mit Home Office über die Runden kommen, es teilweise sogar genießen, sind die selbstständigen Handwerker beschissen dran. Ein Kontakt mit infizierten Kunden und entsprechende Quarantäne kann das Aus bedeuten ..... Da ist „Selbstdisziplinierung" was ganz anderes.

    2. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor 4 Jahren

      @Thomas Wahl Das meinte ich damit nicht. Ich dachte an institutionelle Schranken für das Handeln der Bundes- und Länderregierungen, die verhindern sollen, dass wir uns zukünftig in einem ständigen Ausnahmezustand befinden.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      (in Antwort auf gelöschten Kommentar) Ok, verstehe ich. Aber irgendwer muss ja entscheiden. Und die Frage der Selbstdisziplin ist richtig und wichtig. Kann aber letztendlich m. E. nicht die staatlichen Institutionen ersetzen. Und ein allgemeiner Rahmen scheint mir zu unspezifisch. Gebe zu, habe keine gute Idee.

    4. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      @Thomas Wahl Ja, ich bin leider auch etwas ratlos. Eine rein parlamentarische Lösung würde voraussichtlich grundsätzlich an den Mehrheitsverhältnissen scheitern. Eher so etwas wie ein paritätisch besetzter Ombudsrat, der im Notfall ein aufschiebendes Veto einlegen kann. Es müssten natürlich Zuständigkeiten und Aktivierungsvoraussetzungen klar definiert werden, was zugegeben schwierig sein dürfte. Was besseres fällt mir gerade nicht ein. Aber dass wir bei all den sich abzeichnenden Zukunftsherausforderungen einen zusätzlichen, über die bestehende Gewaltenverschränkung hinausgehenden, freiheitsbewahrenden Mechanismus gegen den gestaltenden Staat brauchen, stellt sich mir persönlich gerade immer klarer dar. Die Zwänge des Überlebens sind gegenüber dem guten Leben einfach so klar im Vorteil, dass wir hier einen Ausgleich brauchen.

    5. Andreas P.
      Andreas P. · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      (in Antwort auf gelöschten Kommentar) Nachdem sich die Lage und die Erkenntnislage ständig ändern, bleibt eigentlich nur der Rückgriff auf das Grundgesetz:
      1. Keine Grundrechtseinschränkungen ohne Parlamentsentscheidung (also keine Abwälzung auf Behörden, Institute, Technokraten, Kommissionen, Ombudsmänner) und keine Entscheidungen der Exekutive, es sei denn wirklich eiligst und gefolgt von einer parlamentarischen Entscheidung.
      2. Wenn das Parlament danebenlangt, wird es abgewählt. Wenn die Exekutive danebenlangt, wird sie von den Gerichten aufgehoben und dann sollten sich eigentlich die Entscheidungsträger aus Peinlichkeit selbst auswechseln.
      3. Föderalismus ist gut, weil er uns antifragil macht und Bundesländer von anderes handelnden Bundesländern lernen können.
      Das sichert Verantwortlichkeit, Verhältnismäßigkeit und Freiheit.

    6. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor 4 Jahren

      @Andreas P. Da bin ich eigentlich in allen Punkten bei Dir. Nur wäre halt im dauerhaften Ausnahmezustand immer alles irgendwie eilig. Ein ständiger Wettbewerb zwischen Bund, Ländern und Landkreisen im Regieren per Verordnung..., da stellt's mir eben irgendwie die Haare auf. Aber ja, wahrscheinlich ist es Wunschdenken, das vorab irgendwie minimieren zu können.

    7. Andreas P.
      Andreas P. · vor 4 Jahren

      (in Antwort auf gelöschten Kommentar) Wenn die Rechtsprechung funktioniert und bestehende Regeln anwendet, kann es nicht mehr passieren, dass Söder im Landtag, in laufender Sitzung (!) eine Verordnung verkündet, die er nur erlassen kann, weil der Landtag nicht rechtzeitig zusammenkommen kann. Solche und ähnlich angeblich eilbedürftige Maßnahmen sind eigentlich klar rechtswidrig und müssen aufgehoben werden.

    8. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor 4 Jahren

      @Andreas P. Ja, vermutlich hast Du recht und wir haben eigentlich schon alle Instrumente.

      Wenn nur das Wörtchen wenn nicht wär...

    9. Andreas P.
      Andreas P. · vor 4 Jahren

      @Andreas P. Gerichte arbeiten langsam aber nachhaltig und sind hoffentlich noch nicht vollständig mit 68ern besetzt, die Recht mit Ideologien verbiegen. Ich habe Hoffnung.

    10. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      @Andreas P. Nur lernt ja kaum ein Bundesland vom anderen. Aus was für Gründen auch immer. Berlin würde nieeee das Bildungssystem von Bayern übernehmen. Eher verelenden sie ;-(

      Und große Teile des Volkes machen mit .....

    11. Andreas P.
      Andreas P. · vor 4 Jahren

      @Thomas Wahl Das könnte man sofort ändern, wenn man den Länderfinanzausgleich abschafft. Bei Corona gibt es keine Entsprechung zum Länderfinanzausgleich - Berliner Tote werden nicht in Bayern gemeldet, um die Unfähigkeit zu kaschieren.

    12. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren

      @Andreas P. Oh ja, nur werde ich das wohl nicht mehr erleben mit dem Länderfinanzausgleich....

  2. Andreas P.
    Andreas P. · vor 4 Jahren

    Großartig. Vielen Dank.

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