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"Die gesellschaftliche Gewöhnung an diese Todesart beginnt erst"

Charly Kowalczyk
Journalist

Ich bin in Singen am Hohentwiel geboren und lebe in Potsdam. Schreibe Radiofeature für den Deutschlandfunk und für die Sender der ARD. Bin Mitgründer des Bremer Hörkinos. Seit nun fast 19 Jahren stellen wir in Bremen ein Radiofeature der Öffentlichkeit vor.
www.bremer-hoerkino.de

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Charly KowalczykSonntag, 16.01.2022

2020 starben in Deutschland insgesamt 9 206 Personen durch Suizid. 75 Prozent Männer und 25 Prozent Frauen. Insgesamt ist jedoch die Zahl der Suizide in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen.

Doch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 stellt sich unter anderem die Frage, ob die Zahl der Suizide in Zukunft wieder steigt. Die Freiheit, sich zu töten und dafür die Hilfe von Dritten in Anspruch zu nehmen, ist nun verfassungsrechtlich geschützt. Ein historisches Urteil. Anspruch auf Suizidassistenz haben demnach nicht bloß todkranke Menschen, sondern alle, wenn sie nur selbstbestimmt entscheiden. Dabei spielt es keine Rolle mehr, warum jemand nicht mehr leben will. Welche Folgen dieses Urteil für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen hat, das beleuchtet Martina Keller in ihrem ARD-Radiofeature "Sterben nach Plan. Doku über den assistierten Suizid".

Die Antwort auf die Frage, ob es durch den erlaubten assistierten Suizid in Deutschland mehr Selbstmorde geben wird, bleibt offen. Doch für Martina Keller lohnt es sich, einen Blick in die Schweiz zu wagen, in der Sterbehilfe schon einige Jahre länger erlaubt ist:

"In der Schweiz ist auffällig, dass die stark gestiegene Zahl der assistierten Suizide den Rückgang bei den einsamen Suiziden kompensiert hat. Aber man kann daraus nicht schließen, dass die Menschen, statt sich etwa vom Hochhaus zu stürzen, nun die “sanftere” Methode des assistierten Suizids wählen. Denn die Personengruppen haben sich geändert, wie ich im Feature auch berichte: Den einsamen Suizid führen vorwiegend Männer aus, den assistierten wählen weit überwiegend Frauen."

Ein nachdenkliches Radiofeature über eine höchst sensible ethische Frage – und viele Fragen, die sich wiederum daraus ergeben: Was bedeutet SELBSTBESTIMMT ganz genau? Wer legt fest, ob und wann jemand berechtigt ist, sein Leben mithilfe einer Sterbehilfe-Organisation zu beenden? Gibt es nicht Verfassungsrechte, die dem Selbstbestimmungsrecht entgegenstehen?

Oliver Tolmein ist Fachanwalt für Medizinrecht in Hamburg und war bei mehreren Gesetzgebungsverfahren im Bundestag als Sachverständiger geladen. Er argumentiert im Feature, wie ambivalent die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist:

"Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung das Selbstbestimmungsrecht auf einen sehr, sehr hohen Sockel gehoben, was gute Gründe hat. Es gibt aber auch andere Rechte mit Verfassungsrang, bei denen man sich fragen kann, wo die eigentlich in dieser Entscheidung bleiben. Das ist insbesondere das Recht auf Leben, der Schutz des Lebens, der durch die Verfassung garantiert ist. Das ist möglicherweise auch die Menschenwürde, und das ist auch der Gleichheitsgrundsatz. (...) Was auf gar keinen Fall sein darf, ist dass wir eine gesetzliche Regelung bekommen, die eine flächendeckende Suizidassistenzberatungsstruktur schafft, die also dafür da ist, Menschen zu beraten und festzustellen: Haben die einen ausreichend freien Willen, der dann auch zertifiziert oder bestätigt wird, mit einem Stempel oder Dienstsiegel, um Suizid begehen zu können."

Ist der Sterbewunsch bspw. von psychisch Kranken eine freie und somit auch eine selbstbestimmte Entscheidung? Menschen, die sich mit Selbsttötungsgedanken tragen, sind in der Regel ambivalent, bis sich ihre Krise zuspitzt, erzählt die Psychiaterin Ute Lewitzka von der Universitätsklinik Dresden. Sie ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention:

"Es ist ein kurzes Zeitfenster, und ganz häufig, ist hinterher eine ganz andere Bewertung da, das heißt: Wenn ich das schaffe, sie hier zu begleiten, und die müssen nicht alle in die Psychiatrie, die müssen nicht alle in die geschützte Station, sondern es braucht diese Begleitung, dann kann ich wirklich Leben retten. In dem kurzen Zeitfenster, wo der Mensch diese Suizidgedanken so vehement hat, behaupte ich als Kliniker, ist die Entscheidungsfreiheit eingeschränkt. In dem Moment ist er nicht wirklich frei, weil die Depression, das wird Ihnen jeder Psychiater eigentlich bestätigen können, die verändert nun mal das Denken, Fühlen und Wollen."

Die deutschen Experten für Suizidprävention fürchten jedenfalls eine Zunahme der Selbsttötungen durch den nun leicht zugänglichen assistierten Suizid, meint die Wissenschaftsjournalistin.

"Die bisherigen Zahlen sind noch nicht so enorm, ein paar hundert, aber die Sterbehilfevereine bauen ihre Infrastruktur gerade erst auf, und die gesellschaftliche Gewöhnung an diese Todesart beginnt erst."

Dieses Feature ist so hörenswert, weil die Autorin tief in die Materie eintaucht. Fast jeder Frage nachgeht. Und es sich nicht leicht macht. Sie trifft sich unter anderem auch mit Menschen, die ihr Leben beenden wollen, um ihre Beweggründe zu erfahren. Wie zum Beispiel der junge Mann, der grad Vater geworden ist:

"Ich hab frisch ein Kind gekriegt, und an sich war alles gut in unserem Leben, und dann kommt so eine Diagnose, und dann fängt man an, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Und für mich war am Anfang Krebs gleich Tod. Das ist es ja letztendlich nicht, aber trotz alledem war für mich das Thema Suizid dann auch immer, schwingt irgendwie immer mit, egal, bei welcher Untersuchung, nach drei Monaten wieder zum CT, MRT. Was kommt jetzt dabei rum?"

Martina Keller ist unterwegs mit einem Sterbehelfer. Spricht mit Psychiaterinnen und Psychiatern. Trifft sich mit Claudia Bausewein, der Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Geht der Frage nach, welche Auswirkungen das Bundesverfassungsgerichtsurteil auf Sterbehilfe-Organisationen hat – und auch auf die Politik. Fast am Ende der Sendung erzählt die Frau des jungen Vaters, der an Krebs leidet, wie sie auf den Wunsch ihres Mannes nach einem assistierten Suizid reagiert. Während sie spricht, laufen ihr Tränen über das Gesicht. So berichtet es die Autorin im Feature:

"Für mich persönlich käme es nicht infrage, aber ich kenne meinen Mann, und ich weiß, dass er sich nicht überreden lässt, was anderes zu machen. Also wenn er diese Option hat und auch machen möchte, dann lässt er sich von niemandem überreden, das doch nicht zu tun. Klar ist für die Familie nicht schön, oder für mich natürlich. Sie sehen es ja auch. Aber ich habe ihm auch gesagt: Ich bin immer für ihn da und ich gehe diesen Weg, auch diesen Weg, mit ihm bis zum Schluss."

"Die gesellschaftliche Gewöhnung an diese Todesart beginnt erst"

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Kommentare 1
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor fast 3 Jahre

    hm. Das Recht auf Leben beinhaltet m.A. nach keine Pflicht dazu. ABER ich denke auch dass jemand (zumindest der ohne "guten" Grund wie etwa tödliche Krankheit und schlimmste Schmerzen) eigentlich immer in einer psychischen AusnahmeSituation sich befindet wenn er sie sterben will. Das wiederum schränkt den freien Willen natürlich ein. und auch der von mir so genannte gute Grund dürfte z gr T wegfallen wenn denn unser medizinisches und gesellschaftliche System wesentlich besser funktionieren würde: bessere Palliativversorgung bessere Begleitung von Schwerstkranken und Sterbenden...
    und die von mir genannten ohne "guten" Grund (= die natürlich psychologisch extrem leiden können) können ja oft nicht mal darauf hoffen, dass sie schnell und einfach Zugang zu einem Psychologen bekommen!
    So lange das alles nicht funktioniert...

    Natürlich würde ich niemanden, der frei und unbeeinflusst sich selbst versucht zu töten, etwa bestrafen wollen. Selbstmord Selbsttötung ist keine Straftat.

    legaler assistierter Suizid ist grundsätzlich richtig.
    Aber die Ausgestaltung ist problematisch. wenn jemand wie der als "stur" dargestellte o.g. Vater etwa erstmal im beauftragten Prozess mit dem Assistenten sich befindet - wie groß ist die Gefahr, dass er um sein Gesicht zu wahren nicht zwischendurch sagt: hey ich will doch nicht?

    Aber ok: ob das Erlauben von assistierter Selbsttötung zu mehr Suiziden führt, halte ich für äußerst fraglich.
    Dieses Argument erinnert mich doch stark an die Diskussion um die angebliche Schwangerschaftsabbruch-Werbung.

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