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Europa

Was meinen wir Europäer, wenn wir von Demokratie sprechen?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 04.08.2023

Wann ist eine Demokratie eine Demokratie und ein Demokrat ein Demokrat? Warum meinen viele Demokratinnen und Demokraten, dass man die Demokratie vor sich selbst schützen muss? Was sind die bestimmenden Merkmale einer Demokratie und wer definiert das mit welchen Begründungen? Diese durchaus polemischen Fragen stellt Philip Manow in seinem Essay im aktuellen MERKUR. 
Die einen sagen Demokratie und meinen Volkssouveränität, die anderen sagen Demokratie und meinen Gewaltenteilung. Seit einiger Zeit behaupten die, die Gewaltenteilung sagen, darüber hinaus auch, dass Volkssouveränität alleine ja noch keine wirkliche Demokratie ausmache – sondern, ganz im Gegenteil, von ihr eigentlich eine besondere Gefährdung der Demokratie ausgehe. 

Klar scheint, die Präferenz für eines der Demokratie-Modelle, hängt mit den eigenen Interessen zusammen, oder wie der Autor schreibt, von den "unterschiedlichen Sprecherpositionen".

Die Mehrheit interpretiert – Überraschung – Demokratie eher majoritär. Die Minderheit betont hingegen checks and balances, den Schutz von Minderheiten und die Gefahr einer Tyrannei der – Überraschung – Mehrheit. Die Mehrheit möchte durchregieren, die Minderheit möchte das Durchregieren der Mehrheit verhindern.

Gegenwärtig gewinnt die Vorstellung, dass von reinen Wahldemokratien mit nur schwacher Gewaltenteilung eine Selbstgefährdung ausgeht, scheinbar an Boden. Alte Mehrheiten sehen sich offensichtlich durch mehr direkte Demokratie, sprich Volksabstimmungen, eher gefährdet. Ein solcher "suicide of democracy" ist nicht nur denkbar, sondern etwa in der Weimarer Republik auch passiert. Demokratische Mehrheiten verhelfen Autokraten und Schlimmeren in Wahlen zur Macht. Um einen solchen Entwicklungspfad abzuschneiden, versucht man daher die Demokratie vor sich selbst zu schützen – durch die Abschwächung oder Relativierung der Volkssouveränität. Und das, in dem man Bedeutung und Macht jener Institutionen des Staates, die selbst nicht direkt demokratisch sind, stärkt: Gerichte, unabhängige Zentralbanken, unabhängige Informations- und statistische Dienste, verschiedene Prüfungs- und Überwachungsinstitutionen.

Können solche Institutionen uns vor dem Missbrauch der Demokratie durch Führer schützen, die meinen, durch ihren Wahlsieg berechtigt zu sein, so zu handeln, wie sie wollen?
Die Frage stellt sich, weil die Argumente für starke institutionelle Beschränkungen des Mehrheitswillens normativ recht unbedarft erscheinen. Worauf gründet sich eigentlich die Vorstellung, man müsse das Majoritäre nur mit allerlei nonmajoritären Institutionen um- und zustellen, dann würden sich Interessenausgleich, Gerechtigkeit und Stabilität schon von selbst ergeben? 

Auf einmal liegt das Mittel zur Rettung der Demokratie dort,

wo sich seit den 1980er Jahren die Lieblingsfeinde der Linken organisierten: in der unabhängigen Zentralbank. Selbst das bekannte Demokratiedefizit der Europäischen Union wird so unter der Hand zum demokratischen Vorteil. Das Motto der Gegenwart scheint zu lauten: Weniger (elektorale) Demokratie wagen – vielleicht ja nur ein wenig weniger.

Aus einer politisch progressiven Position heraus befürwortete man seinerzeit Roosevelts berühmte Drohung gegenüber einem marktliberalen Supreme Court, der gegen den New-Deal agierte. Der Oberste Gerichtshof war bei Roosevelts Regierungsübernahme überwiegend mit auf Lebenszeit ernannten Richtern besetzt, die noch von republikanischen Präsidenten berufen wurden und die immer wieder progressive Gesetze für verfassungswidrig erklärten. Mit seiner großen Mehrheit der Wähler im Rücken entschied Roosevelt 1936 eine Justizreform voranzutreiben.
So sah ein von ihm vorgelegtes Gesetz eine Kompetenz des amerikanischen Präsidenten vor, für jeden über 70-jährigen Richter, der sich weigerte, in Ruhestand zu gehen, zusätzliche neue Richter zu ernennen. Dieses Vorhaben stieß jedoch nicht nur bei den oppositionellen Republikanern auf heftigen Widerstand, auch eine Reihe demokratischer Kongressmitglieder sahen die Pläne des Staatsoberhauptes kritisch an.

Zwar scheiterte Roosevelt, den Vorstoß durch die Legislative zu bringen, aber der öffentliche Druck auf die Richter führte zu einer Änderung der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Ähnlich, nur andersherum, sieht es Philip Manow heute im Fall Israels. Solange die Arbeiterpartei mit ihrer Mehrheit die Geschicke des Landes allein bestimmen konnte, war die Frage nach einer Verfassung für sie nebensächlich. Mit dem Aufstieg der Likud-Partei entdeckte man dann, wie unerlässlich in einer Demokratie doch eigentlich eine verfassungsrechtliche Einhegung des Mehrheitswillens wäre. 

Was heute, im Kontext der notorischen israelischen Justizreform, zu der bemerkenswerten Pointe führt, dass Netanjahus rechts-religiöse Koalition mit der einfachen Mehrheit von 61 Stimmen in der Hundertzwanzig-Sitze Knesset ein neues Grundgesetzkapitel verabschiedet hat, das erlaubt, Beschlüsse des Supreme Court mit einfacher parlamentarischer Mehrheit zu überstimmen, und der Supreme Court daraufhin ankündigt, dieses neue Grundgesetzkapitel auf der Basis eines in den 1990er Jahren mit einfacher Mehrheit verabschiedeten anderen Grundgesetzkapitels für verfassungswidrig erklären zu wollen.

Oder ein anderes Beispiel aus dem Artikel: Deutsche Europarechtler und die EU-Kommission forderten nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts welches das Staatsanleihenkaufprogramm der EZB 2020 – entgegen der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs – für kompetenzwidrig erklärt hatte, von der Bundesregierung Karlsruhe auf Linie zu bringen, 
weil ein gegenüber einer integrationseuphorischen Bundesregierung unabhängiges Bundesverfassungsgericht ein von einer integrationsskeptischen Regierung mittlerweile abhängiges polnisches oder ungarisches Verfassungsgericht ja womöglich auf dumme Gedanken bringen könnte: Tod der Gewaltenteilung im Dienste eines heroischen politischen Kampfes gegen eine getötete Gewaltenteilung!

Es ist sicher kein gutes oder nachhaltiges Prinzip, demokratische Verfahren und Strukturen immer nur dann richtig zu finden, wenn sie dem eigenen Lager gerade nützen. Und dem jeweils anderen Lager dann vorzuwerfen, sie wären Feinde der Demokratie. Auch wenn es manchmal zutrifft. Europa, wir sollten reden – über unsere Demokratie.

Was meinen wir Europäer, wenn wir von Demokratie sprechen?

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Kommentare 3
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

    ah, schwierig schwierig. aber ja, "reine" Demokratie ist .... aus heutiger Sicht undemokratisch, da die Macht der Mehrheit eben alles machen kann, egal was Minderheiten wollen oder was die Menschenrechte betrifft. und selbst die Mehrheiten sind dabei in Gefahr, da ja jede neue Mehrheit einfach die Gesetze der vorherigen umschmeißen kann.
    daher ja: Demokratie funktioniert nur, wenn ein Rechtsstaat und eine Verfassung mit nicht (kaum) zu ändernden Grundrechten existiert.
    und nein, das ist nicht (nur) die westlich liberale Vorstellung von Demokratie.
    philosophisch und "logisch" lässt sich das ganz ohne Kontext herleiten:
    Rawls Schleier...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Nichts gegen Rechtsstaat und Verfassung. Aber erstens ist jede Verfassung sehr allgemein formuliert und damit für Interpretationen in alle Richtungen offen. Man muß sie dazu nicht verändern. Und zweitens versucht jede Partei, jede politische Richtung natürlich seine Verfassungsgerichtsbarkeit zu gestalten, nach ihrem Bilde. So wie es im Artikel auch beschrieben ist. Was wahrscheinlich auch gut ist, bei nicht Erfolg einer Richtung zu wechseln. Was allerdings natürlich auch schief gehen kann. Ja, es gibt auch in der Demokratie keine Gewißheit und keine Garantie auf gute Entscheidungen. Weder mit noch ohne Gewaltenteilung und Rechtsstaat.

      Bei Rawls denke ich, er kommt auch mit seiner Idee von der Entscheidung für die Demokratie hinter dem Schleier der Unwissenheit aus dem Kontext der westlichen Philosophie. Zum anderen ist nicht entscheidend, was man philosophisch und logisch herleiten kann. Entscheidend ist, was sich in der Entwicklung der Gesellschaften durchsetzt/durchsetzen läßt. Und bisher sind noch alle solche großartigen philosophischen Kopfgeburten gescheitert - logisch hin oder her. Geschichte scheint der Logik der Philosophen etc. meist nicht zu folgen. Ich habe auch noch kein Land gesehen, dass seine Entscheidung für oder gegen Demokratie hinter dem Schleier der Unwissenheit getroffen hätte …. ;-)

    2. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl stimmt schon. ich meinte mit dem Verweis auf Rawls auch "nur", dass man nicht westlich-eurozentrisch auf die Menschenrechte etc. verweist, wenn ... man auf die Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit verweist.
      Dass diese tatsächlich logisch bzw. psychologisch herleitbar sind...
      klar kann man dann immer noch sagen, dass allein dieser Ansatz, dieser Gedanke von "Logik" westlich-eurozentrisch/hellenistisch/aufklärerisch entstanden ist; wenn das aber dann schon als nicht universelle Gültigkeit beanspruchend gesetzt wird, können wir auf der einen Welt im 21. Jahrhundert überhaupt nicht mehr (politisch) sprechen.
      Andererseits sind Menschenrechte und Rechtsstaat sowieso durch UNO und Internationeles Völkerrecht klar formuliert und gültig.
      insofern hinkt die Diskussion in vielen Teilen der Gesellschaft bzw. im populistischen Gerede weit hinter den tatsächlichen Gegebenenheiten hinterher.
      Wo ich voll auf Ihrer Seite bin, dass man natürlich leider Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit aushebeln kann - zunächst ganz beiläufig und harmlos wirkend...

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