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Europa

Polens Traumata, Polens Politiken - eine Annäherung

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSonntag, 04.02.2024

Polen war für Ostdeutsche einer der wenigen Länder, in die man reisen konnte und oft reiste. Das nicht nur zu den "Polenmärkten" sondern auch zu den historischen Städten, in die kulturellen Zentren. Das Verhältnis zu den Polinnen und Polen war in meiner Erinnerung etwas ambivalent. Politisch betrachteten Polen die Ostdeutschen oft als allzu treue Gefolgsleute des Sowjetimperiums. DDR-Bürger waren andererseits oft leicht neidisch auf die polnische Weltläufigkeit und auf deren privates Unternehmertum. Aber es war da gleichzeitig eine gewisse Überheblichkeit wegen des etwas höheren Lebensstandard. Trotzdem gab es viele Freundschaften und Beziehungen.

Für den Westen scheint Polen noch mehr als für den Osten Deutschlands ein weitgehend unbekannter Nachbar zu sein. Obwohl viele Deutschpolen in die Bundesrepublik migrierten (mit 2,2 Mio. sind Polen die zweit häufigste Gruppe mit Migrationshintergrund, also entweder selbst oder die Eltern geboren in Polen). Das Land ist mit seinen etwa 40 Mio. Einwohnern der fünft-bevölkerungsreichste und seinem BIP der sechstgrößte EU-Partner. Sein geografische Lage macht es dazu geopolitisch und militärisch zu einem besonderen Akteur. Polen hat Landesgrenzen von 210 km zum russische Oblast Kaliningrad und gut 400 km zu Belarus. Und natürlich lange Grenzen zur Ukraine und zu Litauen. 

Insofern ist es wichtig, dass die Medien, aus Anlass des politischen Wechsels in Warschau, zunehmend über das Land, die aktuellen Probleme und über die Geschichte berichten. In der NZZ rezensiert 
Ulrich M. Schmid einen Essay über Polens "Posttraumatische Souveränität". Karolina Wigura, Ideenhistorikerin und Jarosław Kuisz, Politikwissenschaftler, analysieren darin die jüngeren Wirren der polnischen Gesellschaft, wie der Krieg in der Ukraine historische Traumata reaktiviert und warum Warschau trotzdem eine so aktive Rolle in der europäischen Verteidigungspolitik übernommen hat. Selbst unter der abgewählten Regierungspartei PiS, die die EU auch schon als Bedrohung der eigenen Souveränität sah. 
Aus ihrer Sicht steigert gerade die wiederholte Erfahrung des Staatszusammenbruchs in Polen den Wert der nationalen Souveränität, der in westlichen Ländern schon längst anderen Staatszielen wie der Sicherung von Wohlfahrt, Gesundheit oder Infrastruktur gewichen ist. Dieses unterschiedliche Staatsverständnis kann bisweilen zu grotesken Episoden führen. So rief der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki im Oktober 2021 symbolisch zu den Waffen, falls die Europäische Kommission im Streit um Polens Rechtsstaatlichkeit «einen dritten Weltkrieg» anzetteln würde.
Aber sind solche erratischen Deutungen nicht in gewisser Weise verständlich für ein Volk, das im Mittelalter eine europäische Großmacht war und im 19.Jh. lange von der Landkarte verschwand? Ein Volk, geprägt vom wiederholten Verlust seines Staates, von Teilungen und Aufständen?
Kuisz und Wigura verstehen sich als Brückenbauer zwischen Ost und West und versuchen aufzuzeigen, warum der Begriff der «Souveränität» einen ganz anderen Klang in den Ohren der polnischen Bevölkerung hat. Gerade weil die Nation auch in der jüngsten Vergangenheit immer in ihrer Existenz bedroht war, stellt die «posttraumatische Souveränität» eine wichtige politische Antriebskraft dar, die weit über die konservative Wählerschaft der PiS hinausreicht.
Es erklärt auch, wie man mit der Angst vor dem Verlust der Souveränität Politik machen kann, wie die PiS es tat. So konnte Kaczynski 2015 dem Wahlvolk einreden,
Polen liege «in Ruinen» und müsse gerettet werden. In einem weitherum beachteten Interview für die «Financial Times» wiederholte Kaczynski 2016 seine Diagnose und hielt in seinem typischen Duktus fest: «Die Elite sagt, dass in Polen alles in Ordnung sei. Aber es ist nichts in Ordnung. Überhaupt nichts ist in Ordnung.»
Mit diesem Angstszenario gelang es den Liberalismus auf die gleiche Ebene wie den Faschismus und den Kommunismus zu stellen und gemeinsam mit Orban innerhalb der EU eine illiberale, europaskeptische Allianz zu bilden. Mit dem Segen der Kirche konnte PiS nach dem Wahlsieg die Justiz, die Medien prägen und unter Kontrolle bringen, damit auch die Seelen vieler Menschen manipulieren. Aber die beiden Autoren zeigen ebenso die starken 
 «liberalen Emotionen», die gerade auch vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine wirkmächtig werden. Ihre These lautet, dass die «posttraumatische Souveränität» Polens nach dem 24. Februar 2022 auch auf den Westen übergegriffen hat. Vor dem russischen Einmarsch wurden warnende Stimmen aus Polen als Alarmismus abgetan. Heute herrscht in vielen europäischen Hauptstädten die Überzeugung, dass in der Ukraine auch die Souveränität der westlichen Staaten verteidigt werden müsse.

Polen selbst steht nun vor der Aufgabe nach acht Jahren der Herrschaft illiberaler und nationalistischer politischer Ideen und Kräfte zurück zu finden zu einer liberalen offenen Gesellschaft. Ohne wieder, wie seinerseits auch Tusks liberale Bürgerplattform, zu versuchen, das Verfassungsgericht nur rein mit eigenen Parteianhängern zusammenzustellen.

Damit steht man, so T.G.Ash im Guardian, vor einem Dilemma. Muss man zum Beispiel bestimmte Gesetze, Rechtsrahmen, brechen, die von einer demokratisch gewählten Regierung erlassen wurden, um die Rechtsstaatlichkeit als Gesamtheit wieder herzustellen? Es scheint, so Ash, die Wiederherstellung der liberalen Demokratie ist intern schwieriger als ihre ursprüngliche Gründung nach dem Ende des Kommunismus im Jahr 1989:

Es ist intern schwieriger, denn dies ist nicht, wie 1989, eine extern aufgezwungene Einparteiendiktatur, bei der fast alle Polen - einschließlich vieler der ehemaligen kommunistischen Machthaber - zustimmten, dass sie durch eine friedliche Revolution verändert werden muss. Vielmehr ist es ein völlig hausgemachtes Durcheinander, das größtenteils in Gesetze gehüllt ist, die von einer demokratisch gewählten parlamentarischen Mehrheit genehmigt wurden.

Zweitens haben wir in Polen (und nicht nur dort), so wieder Ash, 

einen Fall von Hyperpolarisation, Fake News und Hysterie, der stark an die heutigen Vereinigten Staaten erinnert. Wie Maga-Republikaner und linke Demokraten leben Anhänger von Kaczyński und Tusk in verschiedenen Realitäten, wobei jeder den anderen wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit und des Verrats der Nation anprangert. Eine stabile liberale Demokratie hängt von einem grundlegenden sozialen Konsens über die Legitimität wichtiger Institutionen wie Parlament, Präsidentschaft, unabhängige Gerichte und freie Medien ab. 

Das gilt sicher auch für die Spaltung heute in Deutschland und dann für eine Post-AfD-Ära. Man wird nicht einen hohen Prozentsatz der Bürger ewig hinter einer Brandmauer halten können. Also lernen wir hoffentlich von Polen, wie man 

 … eine gut funktionierende liberale Demokratie (schafft), wenn es diesen minimalen sozialen Konsens nicht gibt?

In der Zeit schildert Heinrich Wefing aus Warschau die konkreten Probleme. 

Seit 2015 hat die PiS den polnischen Staat strategisch umgebaut, aus einer modernen westlichen Demokratie eine illiberale nach ungarischem Vorbild gemacht. Viele Institutionen – Gerichte, die Staatsanwaltschaften, die Geheimdienste, das öffentlich-rechtliche Fernsehen – sind mit PiS-Leuten durchsetzt. Und die wehren sich nun hartnäckig. Die PiS hat die Mehrheit im Parlament verloren, aber längst noch nicht alle Macht.

Ein besonders skurriler, aber symbolischer Fall in diesem Machtkampf ging auch durch deutsche Medien. Zwei PiS-Politiker, Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik, Innenminister der eine, dessen Stellvertreter der andere, saßen wegen eines Skandals, der 15 Jahre zurückliegt, in Haft. Dann wurden sie freigelassen,
begnadigt vom PiS-nahen Staatspräsidenten Andrzej Duda. Während ihrer Haft waren sie im Hungerstreik, wurden zwangsernährt. Der neuen Regierung, sagt Wójcik (ein PiS-Abgeordneter), gehe es nicht um Gerechtigkeit, es gehe ihr um Rache. "Donald Tusk ist kein Demokrat." Er täusche Europa, er attackiere die "Fundamente der Demokratie": "Polen ist auf dem Weg in die Tyrannei."
Für die einen sind das Helden, für die anderen Kriminelle. So ist die Machtkonstellation derzeit in Polen. Staatspräsident Andrzej Duda gewann 2020 die Stichwahl gegen seinen Kontrahenten Rafał Trzaskowski mit 51,03 Prozent der Stimmen und kann noch bis 2025 die Politik der liberalen Regierung konterkarieren und blockieren. Dazu kommt das Verfassungstribunal, das höchste Gericht in Polen. Dessen 15 Richterinnen und Richter wurden alle von der PiS gewählt. Wefing schätzt das so ein:
Es gibt dort nicht nur zwei politische Lager, die sich erbittert bekämpfen. Es gibt zwei Versionen von Recht und Unrecht. Zwei Realitäten, zwei Wahrheiten. Zwei Staaten auf dem Boden eines Landes. Und je länger man das Nebeneinander betrachtet, desto ungewisser scheint es, ob sich Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge überhaupt noch unterscheiden lassen.
Wir haben es mit einem dysfunktionalen Dualismus der Staatsgewalten zu tun, auch mit einer Dualität von Recht und Unrecht. Solche machtpolitischen "Spielchen" wie oben beschrieben gibt es zu Hauf und wird es weiter geben. Wie das auf Dauer die Akzeptanz für eine liberale Demokratie beeinflußt ist offen. Wann wird der Ruf nach radikalen Gewaltlösungen lauter? Nein, es gibt keine Regeln für die für die Rekonstitution eines Rechtsstaats. Noch agiert laut ZEIT-Artikel
die neue Regierung indirekt, kleinteilig, mit juristischen Mitteln, die manchmal geradezu wie Tricksereien aussehen. Oder mindestens ein bisschen hilflos: Das Außenministerium etwa beruft PiS-nahe Botschafter nicht von ihren Posten ab, dazu bräuchte es die Zustimmung des Präsidenten. Es beordert sie lediglich zu Konsultationen zurück nach Warschau. Das geht ohne Beteiligung von Duda – und kann lange dauern. Das Justizministerium hat gerade entdeckt, dass viele PiS-nahe Staatsanwälte noch eine Menge Resturlaub haben. Also hat das Ministerium sie verpflichtet, sofort in die Ferien zu gehen. Dann können immerhin für dreißig oder vierzig Tage andere Staatsanwälte ihre Arbeit erledigen.

Für Adam Bodnar, dem neuen Justizminister lautet daher die wichtigste Frage: "Kann man einen demolierten Rechtsstaat wiederaufbauen, ohne selbst das Recht zu brechen?" Wir sehen hier ein Lehrstück. 





Polens Traumata, Polens Politiken - eine Annäherung

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Kommentare 1
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 10 Monaten

    Hier ein sehr gutes ergänzendes Interview:
    "Jarosław Kuisz: Das Wort Souveränität ist gegenwärtig in Mode, weil es Staaten gibt, die fürchten müssen, von der Landkarte zu verschwinden. In Ostmitteleuropa bekommt man seit Jahrhunderten die Auswirkungen des russischen Imperialismus zu spüren, und in zyklisch wiederkehrenden Abständen haben Staaten wie Polen oder Estland erfahren, dass ihre Unabhängigkeit ausgelöscht wurde. Die politische DNA ist in Ostmitteleuropa deshalb eine besondere. Die Souveränität ist für Staaten wie die Ukraine, Estland, Polen, aber auch für Finnland und Rumänien, etwas anderes als in Westeuropa: Sie ist keine Erfahrung stetiger Sicherheit und Stabilität.

    ZEIT: Sondern?

    Kuisz: Souveränität wird hier als gleichbedeutend mit der begründeten Angst erlebt, die eigene Staatlichkeit und die eigenen Territorien zu verlieren, unter Besatzung zu leben und um die eigene Kultur kämpfen zu müssen. Souveränität wird hier posttraumatisch erfahren: Der Hitler-Stalin-Pakt, der die ostmitteleuropäische Region 1939 zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion aufgeteilt hat, jährt sich bald zum 85. Mal. Die Gesellschaften spüren heute das Trauma der Auflösung ihrer Staaten – man könnte metaphorisch sagen: in allen Fasern ihres Nervensystems. Aus westeuropäischer Sicht mag das schwer zu verstehen sein, denn Staaten wie Frankreich und Großbritannien zeichnen sich durch langfristige Kontinuität der staatlichen Existenz aus. ……..

    ZEIT: Gegenwärtig kämpft die neue polnische Regierung um die Wiederherstellung des Rechtsstaats. Präsident Duda aber warnt vor dem "Terror der Rechtsstaatlichkeit". Was bedeutet der demokratische Rechtsstaat im Ringen um die staatliche Souveränität Polens?

    Kuisz: Über Jahrhunderte galt das Recht in Polen als ein von außen aufgezwungener Import. Der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz hat es im 19. Jahrhundert so ausgedrückt: Das bestehende geschriebene Recht nütze den Polen nichts, es gehöre den fremden Besatzern. Selbst nach 1989 haben die meisten Gründer der Dritten Polnischen Republik betont, einen Rechtsstaat zu etablieren, sei ein langer Prozess, er stecke noch in den Kinderschuhen, und ernst zu nehmende Akademiker teilten die Überzeugung, dass die Last der jahrhundertelang vorenthaltenen Souveränität sich nun auf das fragile Verhältnis zum Rechtsstaat auswirke, mit dem das Land gefremdelt habe. Heute ringen die 300 Jahre der Teilung mit den 30 Jahren, die seit 1989 vergangen sind.

    Wigura: Die Auseinandersetzung handelt im Kern davon, wer den polnischen Messianismus beerbt und die Nation repräsentiert oder wer vielmehr die politische Wirklichkeit in Europa repräsentiert. Als der Alterspräsident des polnischen Parlaments Kornel Morawiecki – der inzwischen verstorbene Vater des ehemaligen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki – 2015 in einer Rede sagte, die Nation stehe über dem Gesetz, da bekam er Standing Ovations, und keineswegs nur von der konservativen PiS-Partei, die nun abgewählt wurde. Wenn Präsident Duda heute vor dem "Terror der Rechtsstaatlichkeit" warnt, dann stiftet er absichtlich semantische Verwirrung, um das Gefühl der Verwirrung bei den Wählern zu vertiefen und die PiS-Partei als die einzige Verteidigerin des polnischen Staates darzustellen – und auch der polnischen Souveränität."

    https://www.zeit.de/20...

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