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Europa

Hat der Westen im Frühjahr 2022 einen Friedensvertrag verhindert?

Jürgen Klute
Theologe, Publizist und Politiker
Zum Kurator'innen-Profil
Jürgen KluteFreitag, 24.02.2023

Diese Behauptung zirkuliert in einigen friedensbewegten und linken Kreisen der bundesdeutschen Gesellschaft. Anlässlich des 1. Jahrestages des russischen Überfalls auf die Ukraine will ich daher heute auf einen Beitrag von Paul Schäfer verweisen, der diese These kritisch unter die Lupe nimmt. Schäfer kommt aus der Friedensforschung, war von 2005 bis 2013 für DIE LINKE im Bundestag und verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion.

Unter dem Titel „Die Johnson-Legende, oder: ‚Wie der Westen den Frieden verhinderte’“ nimmt Schäfer sich die vermeintlichen Belege der Behauptung, Boris Johnson und die NATO hätten im Frühjahr 2022 einen von dem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett ausgehandelten Friedensvertrag verhindert. Auf der Basis einer aufwendigen Recherche hat Schäfer sich die derzeit öffentlich zugänglichen Quellen zu den Gesprächen, die es kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges tatsächlich gegeben hat, sowie auf die vermeintlichen Quellen, auf die die Vertreter dieser These verweisen, angeschaut.

Minutiös belegt Schäfer, dass die These vom verhinderten Friedensvertrag zwischen der Ukraine und Russland ins Reich der Legenden gehört. Schäfers Analyse belegt aber nicht allein die Unhaltbarkeit dieser These, sie zeichnet auch nach, wie die Informationen über die erfolgten Gespräche und Geschehnisse Schritt für Schritt so manipuliert wurden, dass sich die Fakten am Ende in einer Legende aufgelöst haben.

Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine sind zwar wünschenswert und sie werden auch irgendwann stattfinden. Aber wie könnte eine Friedensordnung nach diesem Krieg, der nach weitgehender Einschätzung die alte europäische Friedensordnung zerstört hat, aussehen? Dazu gibt es bisher aus dem politischen Bereich kaum Ideen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch noch auf einen heute veröffentlichten Text des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow verweisen, in dem er erste Überlegungen anstellt, wie eine zukünftige Friedensordnung aussehen könnte: Das deutsche Paradoxon zum Ukraine-Krieg in 10 Thesen. Dieser Beitrag von Ramelow führt Überlegungen von ihm fort, die er schon einige Tage früher veröffentlicht hatte: Von gemeinsamer Sicherheit und wechselseitiger Achtung. Aus meiner Sicht wären diese ersten Skizzen einer zukünftigen europäischen Friedensordnung um den Aspekt einer europäischen Klima-Union bzw. Energie-Union noch zu ergänzen.

Ramelow positioniert sich in diesen Texten explizit gegen die umstrittenen und teils auch mehr als fragwürdigen Äußerungen anderer linker PolitikerInnen zum russischen Krieg gegen die Ukraine, die die Verantwortung für den Krieg den USA und der NATO zuschieben wollen, was einer Täter-Opfer-Umkehr gleichkommt, ein Unterfangen, das ursprünglich das Geschäft der extremen Rechten war. Wer zur Herkunft und zur Rhetorik der Täter-Opfer-Umkehr mehr erfahren möchte, dem sei der Band „Falsche Propheten: Studien zur faschistischen Agitation“ – insbesondere das Kapitel „Der Feind heißt Jude“ – empfohlen. Der Band wurde von dem in die USA emigrierten Mitbegründer der Kritischen Theorie, Leo Löwenthal, 1948 veröffentlich und analysiert die Rhetorik faschistischer Agitatoren in den USA während der Zeit der Nazi-Diktatur. 2021 wurde der Band neu aufgelegt.

Hat der Westen im Frühjahr 2022 einen Friedensvertrag verhindert?

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Kommentare 27
  1. Dominik Lenné
    Dominik Lenné · vor mehr als ein Jahr

    Ramelows Thesen sind gut weil sie den Blick nach vorn richten, aber wenn er eine Kampfpause mit darauffolgendem Waffenstillstand vorschlägt, vermeidet er m.M.n. die Gretchenfrage: "Wie stehst du zum vollständigen russischen Abzug?"

    1. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr

      Wie Bodo Ramelow zu der Gretchenfrage steht, kann ich nicht sagen. So wie ich ihn kenne, wird er sich dafür einsetzen, dass Russland sich von ukrainischem Gebiet vollständig zurückzieht. Als Politiker muss man jedoch immer auch in Rechnung stellen, dass die realen Macht- und Kräfteverhältnisse mitunter so sind, dass dem Völkerrecht nach begründete und richtige Forderungen nicht vollständig durchsetzbar sind. Dann muss man Wege finden, auch mit dieser Situation, die dann ohne jedes Wenn und Aber eine Situation des Unrechts bleibt, praktisch-politisch umzugehen. Darauf sollten politisch Verantwortliche auch vorbereitet sein und ich gehe davon aus, dass auch in der ukrainischen Regierung diese Option im Blick ist.

      Der US-Historiker Stephen Kotkin hat dazu einen Vorschlag unterbreitet, den Mickey Manakas am 24. Februar 2023 im Wiener Standard dargestellt und kommentiert hat (https://www.derstandar...). Das wäre unter den vorgenannten Bedingungen eine denkbare (Übergangs)Situation. Befriedigend fände ich das nicht, aber auszuschließen ist es nicht, dass es zu einer solchen Übergangslösung kommt. Zu entscheiden hat darüber letztlich die Ukraine, obgleich die sie unterstützenden Staaten sich sicher nicht völlig aus einem Entscheidungsfindungsprozess zurückhalten werden, da sie ja auch ihre eigenen Interessen mitverfolgen.

      Wie gesagt, Ziel muss ein vollständiger Rückzug der russischen Armee von ukrainischem Gebiet sein. Aber ob dieses Ziel aufgrund der gegebenen Kräfteverhältnisse letztlich zu erreichen ist, ist eine andere Frage. Das ist aber nicht Bodo Ramelows, sondern meine Sichtweise.

  2. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Sarah Wagenknecht ist ganz vorn dabei, den angeblichen Friedensvertrag als Fakt hinzustellen ……

    https://www.welt.de/me...

    1. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr

      Na ja, Sahra Wagenknecht hat wenige Tage vor dem russischen Überfalls auf die Ukraine ja eine "überzeugende" Probe ihrer politischen Einschätzungs- und Prognosefähigkeiten abgegeben. Da erübrigt sich jeder weitere Kommentar. Ihre Fähigkeiten konzentrieren sich doch eher auf Selbstvermarktung als auf Politik.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute Ja, aber immer mal wieder hatte sie schon Anfälle von logischem Denken gehabt. Alles weg ……

    3. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Mich wundert, das in der deutschen Debatte um den Krieg Kampfhandlungen und diplomatische Verhandlungen gerne alternativ dargestellt. Dabei greifen sie permanent ineinander und laufen gleichzeitig. Bidens Besuch in Kiew und seine Rede in Warschau waren ja genau so Teil eines diplomatischen Aushandlungsprozesses wie die etwas zeitgleich gehaltene Rede von Putin. Da die sich Positionen auf dem Schlachtfeld unmittelbar in Verhandlungsmacht auf dem diplomatischen Parkett übersetzen, sind die Kampfhandlungen – leider Gottes – Teil des Aushandlungsprozesses. Und dass eine Kampfpause nicht Abwesenheit des Besatzer und seines Terrors gegenüber der Zivilbevölkerung bedeutet, gehört ebenfalls zu den gravierenden Fehleinschätzungen einiger Friedensaufrufe. Im Falle des aktuellen Aufrufs von Wagenknecht und Schwarzer scheint es mir ehe weniger um die Ukraine und Russland zu gehen, als darum, dass Wagenknecht Druck auf ihre Partei ausüben will, um möglicherweise eine Abspaltung weiter voranzutreiben. Denn dieser vermeintliche Friedensaufruf sorgt vor allem für weiteren und nachhaltigen Unfrieden innerhalb der Linken. Das wäre eine perfide Instrumentalisierung des Krieges in der Ukraine für die eigene Karriereplanung und Selbstvermarktung. Aber mein Eindruck ist, das es genau darum geht.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute Ersteres sehe ich auch so. Das Zweite kann man gut vermuten. Das alte Spiel unter Linken. Machtgerangel, Diffamierung und Rechthaberei …. Ich frage mich immer, wie Menschen, die eigentlich das Beste für die Menschheit wollen, den Fortschritt verkörpern (nach ihren eigenen Aussagen jedenfalls) so miteinander/gegeneinander umgehen können?

    5. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Ja? Dass da einer anständigerer oder freundlicherer Umgang herrschen würde auf rechts und auf konservativ, das wäre mir aber gründlich entgangen. Historisch scheint mir entgegen, dass der machtpolitische Pragmatismus rechts der Mitte immer besser war und ist. Als leicht links von der Mitte Stehender würde ich sagen "das ist weil links mehr nachgedacht wird."

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Marcus von Jordan Ich habe wenig direkte Erfahrungen in rechteren oder konservativen Politstrukturen. Aber wenn ich mit Menschen diskutiere, die sich nicht als dezidiert links betrachten, läuft das in der Tat oft viel pragmatischer und ja gesitteter ab. Wobei ich eigentlich nichts gegen einen guten und auch harten Streit habe. Ob links mehr nachgedacht wird, weiß ich auch nicht. Ich glaube nicht mal dass es gut ist so viel mehr nachzudenken. Man muß auch machen und dann vor allem daraus lernen. Und das nicht aktivistisch gegen andere und nicht in der Überzeugung der bessere Mensch zu sein …

    7. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl das mit den denken war nur Spass...wollte dich nur teasen...

    8. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Marcus von Jordan Na ja, nicht wenige linke Intellektuelle denken, dass sie viel und tiefer nachdenken, als andere. Ist ja auch was dran. Und dann sind sie frustriert, dass die Anderen die Gesellschaft doch stärker prägen. Und die Welt nicht so ist wie von ihnen gedacht. 😏

    9. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute Nun ich erlebe es andersrum auch, dass wo Diplomatie angemahnt wird, sofort eine gewisse "Wagenknecht-Hysterie" ausbricht, als ob eben keinerlei Logik statthaft sei außer Krieg und totale Niederlage Putins. Wobei diese Front mir zu bröckeln scheint jüngst. In den USA wird längst ganz offen über mögliche diplomatische Wege gesprochen. Vielleicht doch nicht alles "Lumpenpazifisten","Antiimperialisten" und "Putintrolle, die da gemahnt haben?

    10. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr

      @Marcus von Jordan @Marcus von Jordan @Thomas Wahl: Ich denke schon, dass Parteien ein strukturelles Problem haben. Sie ziehen bestimmte Typen an, vor allem auch machtorientierte Menschen. Das liegt m.E. an der politischen Rolle von Parteien (deshalb ja auch die Debatten um das Wahlsystem, siehe David van Reybrouck "Gegen Wahlen" oder Tamara Ehs von der Uni Wien, die dazu forscht). Vielleicht werden Machtkämpfe in anderen Parteien etwas ziviler ausgetragen als in der Teils leicht verrohten Linken. Aber prägend sind sie glaube ich doch für alle Parteien. Als Spät- und Quereinsteiger in die Parteipolitik ist mir das vielleicht stärker ins Auge gesprungen als Parteimitgliedern, die seit ihrer Jugend parteipolitisch sozialisiert wurden. Das m.W. älteste literarische Zeugnis, dass diesen Menschentyps satirisch beschreibt, findet sich in der Bibel, im Alten Testament: Die so genannte Jotamsfabel (Buch der Richter, Kapitel 9, Verse 8-15). Ich füge den Text einfachheitshalber hier ein:

      8 Die Bäume gingen hin, um einen König über sich zu salben, und sprachen zum Ölbaum: Sei unser König! 9 Aber der Ölbaum antwortete ihnen: Soll ich meine Fettigkeit lassen, die Götter und Menschen an mir preisen, und hingehen, über den Bäumen zu schweben? 10 Da sprachen die Bäume zum Feigenbaum: Komm du und sei unser König! 11 Aber der Feigenbaum sprach zu ihnen: Soll ich meine Süßigkeit und meine gute Frucht lassen und hingehen, über den Bäumen zu schweben? 12 Da sprachen die Bäume zum Weinstock: Komm du und sei unser König! 13 Aber der Weinstock sprach zu ihnen: Soll ich meinen Wein lassen, der Götter und Menschen fröhlich macht, und hingehen, über den Bäumen zu schweben? 14 Da sprachen alle Bäume zum Dornbusch: Komm du und sei unser König! 15 Und der Dornbusch sprach zu den Bäumen: Ist’s wahr, dass ihr mich zum König über euch salben wollt, so kommt und bergt euch in meinem Schatten; wenn nicht, so gehe Feuer vom Dornbusch aus und verzehre die Zedern Libanons.

    11. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute sehr interessant! Danke!

    12. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute @Marcus von Jordan: Noch eine dritte und letzte Anmerkung. Mir leuchtet die strikte Unterscheidung zwischen Kampfhandlungen und diplomatischen Verhandlungen nicht ein. In dem Schwarzer-Wagenknecht-Aufruf werden sie als Alternativen gegeneinander gestellt. Das stimmt aber doch nicht mit den tatsächlichen Prozesse überein. Beide Element sind ineinander verschränkt und laufen parallel. Wenn Biden nach Kiew reist und anschließend in Warschau eine Rede hält und Putin etwas gleichzeitig seine Position in einer Rede mitteilt, dann sind das doch Elemente eines diplomatischen Aushandlungsprozesse. Und der Besuch Bidens in Kiew war ja wohl auch abgesprochen mit der russischen Seite.

      Russland hat offensichtlich ein großes ökonomisches Interesse an der Ukraine (ich habe das in einem Artikel auf meinem Blog letztlich mal dargelegt: https://europa.blog/de...), das u.a. mit der EU-Energiewende zusammenhängt. Auf einem regulären Verhandlungsweg lassen sich solche Begehrlichkeiten schwer realisieren. Da passt es gut, dass vor einigen Jahren die russische Militärdoktrin verändert wurde: Sie legitimiert nun auch den Einsatz der Streitkräfte für die Gewährleistung des Schutzes ihrer Bürger, die sich außerhalb der Grenzen der RF aufhalten (https://de.wikipedia.o...). Die frühere Fraktionspräsidentin der Linken im EP, Gabi Zimmer, hatte mich schon mal darauf hingewiesen, als ich noch im EP war. Diese Änderung der Militärdoktrin hat hat in den russischen Nachbarstaaten, in denen russischsprachige Minderheiten leben, große Unruhe ausgelöst. Und tatsächlich hat Russland seine Interventionen in der Ukraine genau so begründet. Mit der Intervention 2014 in der Ukraine und mit der Annektion der Krim hat Russland einen Verhandlungsprozess (Minsker Abkommen) in Gang gesetzt, der auf eine Okkupation der Ostukraine (dort sind erhebliche Bodenschätze vorhanden) zielte. Dann gab es eben bis zum 23. Februar 2022 die Verhandlungen über den Konflikt. Hier zeigt sich ja schon, dass Russland von vornherein diplomatische Verhandlungen mit Militäraktionen verknüpft, um seine diplomatischen Verhandlungsposition durch das Schaffen von Fakten zu stärken. Offensichtlich hat Russland es vor einem Jahr für angeraten gehalten, wieder stärker auf die militärische Karte zu setzen. Hätte er, wie er selbst, aber auch viele Experten im Westen erwarteten, die Ukraine in wenigen Tagen eingenommen, dann wäre die Ukraine heute Tei der RF. Angesichts dieser Konfliktdynamik erscheint es mir als Ausdruck von Hilflosigkeit, Kampfhandlungen und diplomatische Verhandlungen alternativ zu stellen, wobei doch offensichtlich ist, dass Kampfhandlungen von russischer Seite eingesetzt wurden/werden, um die eigene Verhandlungsmacht auf dem diplomatischen Parkett zu verstärken. Abgesehen davon heißt Waffenstillstand nicht, dass die russischen Menschenrechtsverletzungen automatisch enden in den okkupierten Gebieten. Wer garantiert denn dann die Einhaltung des Waffenstillstandes, etc. Insofern wird dieser Aufruf einfach der Komplexität der Situation nicht gerecht – weshalb ich ihn auch eher für innenpolitisch motiviert halte und als Teil des innerparteilichen Machtkampfes. Seriöse Friedensbemühungen müssen doch der Komplexität der Situation auch Rechnung tragen.

    13. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute Ja natürlich, in Strukturen, in denen es um Macht geht, wird mit Macht gekämpft. Und oft mit unfairen Mitteln. Aber diese Rechthaberei, das Sektiererische, das beobachte ich eher in der sehr linken Bewegung. Wo offensichtlich Fragen der Weltanschauung und der Erlösung der Welt eine große Rolle spielen. Dieses unpragmatische Streiten macht es sehr unerfreulich und schwächt letztendlich die Bewegung.

    14. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr

      @Thomas Wahl Ja, es gibt den alten Satz aus der 68-Bewegung "Klarheit vor Einheit", den ein Bekannter von mir vor nun auch schon etwas längerer Zeit noch einmal selbstironisch und eingehüllt in Altersweisheit in einem Gespräch zitierte. Manchmal denke ich – da ich ja aus der kirchlichen Ecke komme, die Linke könnte von der ökumenischen Bewegung der Kirchen etwas lernen. Kirchen sind ja auch Ideologieproduzenten und neigen dem dem Motto "Klarheit vor Einheit" sehr zugeneigt. Andererseits ist die Linke (jetzt nicht die heutige Partei, sondern die Bewegung insgesamt) in einer kirchlich-christlichen Gesellschaft entstanden. Vielleicht ist ihre Neigung zu ideologischen Kämpfen einschließlich der daraus resultierenden Spaltungen auch ein unbewusstes Erbe des christlich-kirchlichen Kontextes, in dem sie entstanden ist.

    15. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute Bei Kolakowski findet sich ja der Gedanke, das Marx von Hegel das eschatologische Problem geerbt/übernommen hat. Was sicher für die linke Bewegung überhaupt gilt. Wie K. im ersten Teil der Haupströmungen schreibt, stellt sich schon der junge Marx die Frage:

      "Wie kann die Versöhnung des Menschen mit sich selbst erreicht werden? Mit anderen Worten: wie kann die Fremdheit zwischen Mensch und Welt aufgehoben werden? ….

      Marx, sieht demnach, wie Hegel, die Perspektive der endgültigen Versöhnung, des Menschen mit der Welt, mit sich selbst und mit den anderen."

      Das ist natürlich eine heilige und gewaltige Aufgabe, die einen auch schnell abheben läßt ….

    16. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr

      @Marcus von Jordan @Marcus von Jordan: Mir geht es nicht um das Thema "Lumpenpazifisten", von denen Sascha Lobo sprach. Ich habe in meiner obigen Emfehlung ja hingewiesen auf die Analysen von Leo Löwenthal zur Rhetorik amerikanischer Faschisten während der Nazi-Diktatur. Schau man sich das Kapitel "Der Feind heißt Jude", in dem es um die Rhetorik der Täter-Opfer-Umkehr geht, dann fallen einem gewisse Nähen zwischen jener faschistischen Rhetorik und der Rhetorik des Wagenknecht/Scharzer-Aufrufs auf, das ja recht geschickt ebenfalls auf eine Täter-Opfer-Umkehr hinausläuft, wenn der Westen und die Ukraine aufgefordert werden, sich nicht länger zu verteidigen, weil die Verteidigung gegen die russische Aggression den Krieg verlängert und die alte europäische Friedensordnung gefährdet.

      Zudem: Vordergründig geht es um Frieden. Wagenknecht ein Thema aufgenommen, das selbstverständlich viele Menschen bewegt und berechtigterweise viele Ängste auslöst. Zugleich trägt sie damit aber weiter Unfrieden in ihre Partei und führt ihre Partei als eine Partie vor, die entgegen ihrer Programmatik doch keine echte Friedenspartei ist. Dabei geht es SW m.E vor allem um den innerparteilichen Machtkampf. Mit rund 620.000 Unterschriften unter dem Aufruf kann sie auf einen großen Rückhalt für ihre Haltung in der Gesellschaft verweisen. Und medial ist derzeit die einzige aus ihrer Partei, die zur Kenntnis genommen wird. Es dürfte Wagenknechts letzter und in der Tat geschickter Versuch sein, den innerparteilichen Machtkampf zu ihren Gunsten zu entscheiden. Das ist ihr Recht, so um ihre Position zu kämpfen. Nur hat dieser innerparteiliche Kampf herzlich wenig mit Krieg und Frieden in der Ukraine zu tun. So gesehen kann ich den Aufruf auch als Instrumentalisierung des russischen Krieges gegen die Ukraine und der berechtigten Ängste vieler Menschen vor Krieg für einen innerparteilichen Machtkampf lesen. Vielleicht liege ich damit falsch. Aber ich kenne die Partei auch gut von innen und auch die Akteure. Deshalb würde es mich überraschen, wenn ich falsch liege.

    17. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute Ich bin da voll bei dir und traue SW das auch zu - sowohl nach Intelligenz als auch nach Unverfrorenheit. Ich wollte dir auch den "Lumpenpazifisten-Ansatz" nicht etwa unterstellt haben, sondern sagen, dass es halt leider zur politischen Debatte gehört, den Gegner jeweils anhand seiner radikalsten Vertreter und seiner krudesten Aussagen zu diffamieren. Diese vielen Stimmen bekommt SW halt, weil sie die einzige Politikerin ist, die derzeit ausschert, AS hält ihr den Steigbügel und viele springen auf, weil sie eben auch mehr oder weniger diffuse Angst haben und keinen anderen Kanal dafür sehen. Ich möchte nicht mit SW demonstrieren und finde vieles völlig unfassbar, was sie sagt. Aber demonstrieren möchte ich schon gerne. Am besten gegen SW, gegen diesen Krieg, gegen Putin und auch gegen die mAn sehr bequeme und herzenskalte Einseitigkeit der deutschen Öffentlichkeit im Moment.

      Du schreibst oben, dass du dich wunderst über diese merkwürdig polarisierte Darstellung, dass Kampfhandlungen und Diplomatie nicht gleichzeitig sein könnten. Ja - beide Seiten tun so. Zumindest häufig höre ich dieses "verhandelt werden kann erst, wenn keiner mehr schiesst" oder sogar "wenn Putin besiegt ist" oder "wenn er alle Gebiete wieder geräumt hat", wobei dann auch gerne gleich die Krim noch mit ins Paket kommt.

      In diesem Text hat mich vieles angesprochen...wobei er mir dann teilweise auch wieder zu schwurblig war.

      https://www.berliner-z...

    18. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      @Marcus von Jordan und hier Habeck ab min 9 ... beachtlich

      https://www.youtube.co...

    19. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr

      @Marcus von Jordan Ja, das ist eine beachtliche Stellungnahme. Vor allem auch seine sehr differenzierte Einschätzung des chinesischen 12-Punkte-Plans. Hier nun zu sagen, dass es keine diplomatischen Bemühungen gäbe – auch von deutscher Seite – in diesem Konflikt, ist einfach unsinnig. Die chinesische Seite wird die Einschätzung des 12-Punkte-Papiers durch Habeck sehr genau zur Kenntnis nehmen und analysieren. Auch wenn Habeck hier nicht direkt mit chinesischen Regierungsvertretern spricht, sondern ein öffentliches Interview gibt, ist das aber dennoch Teil eines diplomatischen Aushandlungsprozesses.

    20. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr

      @Marcus von Jordan Danke für den Link auf den Text von Antje Vollmer. Was sie zu 1989 schreibt und zu der Leistung von Gorbatschow, das teile ich. Ich hatte damals schon den Eindruck, dass mit der Implosion der Sowjetunion ein Machtvakuum entstehen könnte, das zu Konflikten führt (wenn man Theologie studiert hat mit einem Schwerpunkt auf sozialgeschichtliche Exegese, dann lernt man einiges über gesellschaftliche Entwicklungsprozess und Machtverschiebungen – auch zwischen Königreichen – aus der langen historischen Epoche, in denen die Texte des alten Testaments entstanden sind, das sensibilisiert für die Risiken, die mit der Implosion eines Imperiums verbunden sind, und da hat sich bis heute im Grundsatz gar nicht viel geändert). Das damals Fehler gemacht wurden von westlicher Seite, darin stimme ich Antje Vollmer auch zu. Was mir in ihrer Analyse zu kurz kommt, ist die aktuelle Entwicklung. Nach meiner Einschätzung spielen ökonomische Interessen in diesem Krieg eine viel größere Rolle, als in der öffentlichen Debatte wahrgenommen wird. Die europäische Energiewende stürzt die russische Wirtschaft, die im wesentlichen auf dem Export von Gas und Öl basiert, in einen Abgrund. Das hat die russische durchaus thematisiert und das Bundeswirtschaftsministerium hat das auch registriert (Belege dazu findest du in meinem oben genannten Artikel). Aber Politik ist heute sehr auf Werte orientiert und weniger auf wirtschaftliche Interessen. Dabei könnte eine stärkere Fokussierung auf ökonomische Interessen m.E. Perspektiven für eine Konfliktlösung und einen dauerhaften Frieden öffnen. Mit meinem früheren EP-Kollegen Helmut Scholz diskutiere ich seit Längerem über die Chancen einer europäischen Energie- oder Klimaunion als einem politischen Rahmen für eine Konfliktlösung, die eben nicht primär auf Hochrüstung orientiert, sondern auf eine klimapolitische Kooperation, die dringend nötig ist. Sie müsste die Ukraine und Russland einbeziehen und könnte einen politischen Rahmen zur Garantie der Einhaltung eines Friedensabkommen bieten. Angesichts der auftauenden Permafrostböden könnte die Idee auch in Russland auf Interesse und Akzeptanz stoßen. In meinem genannten Artikel habe ich diese Idee etwas ausgeführt.

      Von der Bundesregierung erwarte ich eigentlich, dass sie solche Konzepte entwickelt, statt den Rüstungsetat explodieren zu lassen. Damit könnte die Bundesregierung eine sinnvolle und friedenspolitisch orientierte europäische Führungsrolle übernehmen, in dem sie Diskussionen über politische Konfliktlösungsmodelle anstößt. Aber das scheint leider nicht die Stärke von Olaf Scholz zu sein.

      In die Richtung zu orientieren, könnte auch eine Rolle der Friedensbewegung sein. In meiner Empfehlung habe ich deshalb auf die beiden Beiträge von Bodo Ramelow verwiesen, der ja versucht, als Politiker Eckpunkte einer zukünftigen Friedensordnung zu benennen, um wegzukommen von der einseitigen Orientierung auf militärische Debatten.

      Ginge es Wagenknecht primär um einen Ausweg aus dem Krieg in der Ukraine, dann könnte sie auch anknüpfen an die Überlegungen von Ramelow und sie könnte die Analysen von Paul Schäfer aufnehmen, der ja aus der Friedensforschung kommt. Ich stimme dir zu, dass alternative Denk- und Lösungsansätze im Blick auf den Ukraine-Krieg derzeit keinen Raum haben in der öffentlichen Debatte. Deshalb ist es tragisch, dass Wagenknecht ihre Prominenz nicht nutzt, um lösungsorientierte Debatten anzustoßen.

    21. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute herzlichen Dank nochmal - ich finde du ordnest das sehr schlüssig und klug.

    22. Jürgen Klute
      Jürgen Klute · vor mehr als ein Jahr
    23. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor mehr als ein Jahr

      @Jürgen Klute Die ökonomischen Relevanz der zu erkämpfenden russischen Niederlage für die Ukraine bleibt in den Debatten meist außen vor. Einige Gedanken hierzu am Ende dieses Piqs: www.piqd.de/wissenscha...

      Das gesamte Ausmaß lässt sich wohl kaum realistisch bewerten. Schätzungen gibt es zu den physischen Zerstörungen, doch bereits seit Berichtsjahr 2014 nur rudimentäre Daten zum Donbass, genauer gesagt, zu dem unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Gebiet.

  3. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

    Aufschlussreich.

    Auch andere Texte auf der Webseite von Paul Schäfer sind lesenswert.

    Ergänzend sei dieser Text über russische Propaganda, die auch im Westen wirkt, empfohlen:
    https://www.ipg-journa...?

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